Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine ist zu befürchten, dass eine Vielzahl von Ukrainer_innen durch die Kriegshandlungen vertrieben wird und sie somit zu Geflüchteten werden. Selbstverständlich ist es Aufgabe der Europäischen Union, diese Schutzsuchenden schnell und unbürokratisch aufzunehmen und unterzubringen.
Glücklicherweise stellt sich – anders als in den meisten anderen Fällen – die Frage des Grenzübertritts erstmal nicht. Denn Ukrainer_innen genießen seit 2017 Visafreiheit für die Europäische Union und sollten daher ungehindert einreisen können. Nach Artikel 6 des Schengener Grenzkodex besteht zwar grundsätzlich die Möglichkeiten einer Einreiseverweigerung durch die Schengenstaaten falls gewisse Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Es zeichnet sich jedoch ab, dass die Anrainerstaaten Polen, Slowakei, Rumänien und selbst Ungarn hiervon zumindest vorläufig keinen Gebrauch machen werden.
Wichtig wäre es nun aber, dass a) sich die gesamte Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten an der Aufnahme der Schutzsuchenden beteiligen und b) die langwierige Bürokratie der Dublin-Verordnung vermieden wird.
Hier erweist es sich nun als Vorteil, dass schon 2001 eine dementsprechende europäische Richtlinie verabschiedet wurde, die für den Umgang mit Kriegsflüchtlingen vorgesehen ist:
Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 212/12 vom 7.8.2001
Leider wurde diese Richtlinie seit 2001 noch nie angewendet, obwohl sie beispielsweise schon in deutsches Recht überführt wurde (§ 24 AufenthG).
Die Richtlinie sieht vor, dass der Rat das Bestehen eines Massenzustroms mit qualifizierter Mehrheit feststellt. Dies geschieht auf Antrag der Kommission, die ihrerseits wiederum von einem Mitgliedstaat dazu aufgefordert werden kann (Art. 5). Die Kommission muss benennen, um welche Personengruppe es sich handelt, für die dann nach dem Beschluss des Rates ein temporärer Schutzstatus in allen Mitgliedstaaten eingeführt wird.
Die Dauer des Status ist begrenzt. Die Einreise der betroffenen Personen muss unterstützt werden. Eine weitergehende Asylantragstellung ist für Inhaber_innen des Schutzstatus möglich. Für die Dauer des Schutzes ist sowohl selbständige als auch nicht-selbständige Arbeit zuzulassen, es gibt eine Option auf Familienzusammenführung.
Damit stellt diese Richtlinie eine leicht umsetzbare Option für eine schnelle, großzügige und unbürokratische Aufnahme von Schutzsuchenden aus der Ukraine dar, die nunmehr dringend geboten ist. Zugleich würde eine Aktivierung dieses Mechanismus den tatsächlichen Willen zu einer gesamteuropäischen Lösung der sich abzeichnenden großen humanitären und asylrechtlichen Herausforderungen belegen.