Bericht zu Calais erschienen

Zwischen Frankreich und Großbritannien hat sich ein rigides Grenzregime innerhalb der EU entwickelt, das so sonst nur an den EU-Außengrenzen zu finden ist. Die Hafenstadt Calais bildet das Zentrum dieses Grenzregimes, ist aber zugleich Transit- und Lebensort von Migrant_innen auf ihrem Weg nach Großbritannien. Seit Langem bilden sich dort informelle Camps – die Jungles –, die in den 2000er Jahren zu komplexen multiethnischen Siedlungen anwuchsen und zuletzt zu einer urbanen Siedlung mit über zehntausend Bewohner_innen wurden. Calais wurde zu einem viel beachteten Laboratorium für migrantisch-solidarische und zivilgesellschaftliche Politik und Kultur, aber auch für die technische, polizeiliche und symbolische Aufrüstung der Grenze. Der vorliegende Band beschreibt die Dynamiken dieser Entwicklung von den 1980er Jahren bis zur Zerstörung des größten Jungle im Herbst 2016, der Rückkehr der Migrant_innen nach Calais im Jahr 2017 und der Neujustierung des Grenzregimes durch den britisch-französischen Vertrag von Sandhurst im Januar 2018.

Download, Bestellung und weitere Informationen auf der Seite des Berichts.

Deportation Monitoring Aegean

Bei bordermonitoring.eu geht ein weiteres Projekt an den Start: Deportation Monitoring Aegean berichtet über Abschiebungen von den griechischen Inseln (mit einem Schwerpunkt auf Lesbos) in die Türkei. Bereits seit einem Jahr beobachtet die für den Blog verantwortliche Gruppe auf Lesbos Abschiebungen unter dem EU-Türkei Deal und dem bilateralen Rückführungs-Abkommen zwischen Griechenland und der Türkei.

Die unabhängige Monitoring-Struktur bildete sich aus den Unterstützungsstrukturen für Geflüchtete auf der Insel Lesbos heraus, die immer wieder damit konfrontiert waren, dass einige Menschen plötzlich „verschwanden“. Das Monitoring ist auch eine Reaktion auf die vollständige Intransparenz bezüglich bevorstehender Abschiebungen auf den griechischen Inseln und das Fehlen jedweder Monitoring-Strukturen, die die Vorgänge um die Abschiebungen dokumentieren.

Seit Abschluss des EU-Türkei-Deals im März 2016 können Menschen von den griechischen Inseln aus nach dem Durchlaufen eines sogenannten „Fast-Track Border Procedure“ zurück in die Türkei abgeschoben werden, ohne dass ihr Asylantrag inhaltlich geprüft wurde: Denn falls die Türkei in einem dem eigentlichen Asylverfahren vorgeschalteten Verfahren als „sicherer Drittstaat“ bewertet wurde, können die Betroffenen unmittelbar in die Türkei abgeschoben werden, die dann die eigentliche Prüfung der Asylanträge übernehmen soll. Nahezu alle Personen, die keine syrische Staatsbürgerschaft besitzen, werden nach der Abschiebung in der Türkei inhaftiert. Und viele werden sogar ohne weitere Prüfung ihrer Asylanträge in ihr Herkunftsland zurückgeschoben.

Ziel des Blogs ist es, all dies detailliert – insbesondere anhand von Einzelfällen – zu dokumentieren. Dabei sollen vor allem auch Diskrepanzen zwischen offiziellen Informationen und tatsächlichen Abläufen aufgezeigt und die Situation in Verwaltungs- und Abschiebehaft dokumentiert werden.  Auch die in die Abschiebungen involvierten Akteure und Institutionen werden in den Blick genommen. Weiterhin sollen auf dem Blog Informationen darüber gesammelt werden, was mit den Menschen nach ihrer Abschiebung passierte.

Für all dies kann Deportation Monitoring Aegean auf ein Netzwerk von Geflüchteten, Aktivist_innen, NGOs und Anwält_innen zurückgreifen.  Der Blog selbst ist in verschiedene Seiten untergliedert: Im Bereich Weekly Updates werden nach jeder nachverfolgbaren Abschiebung in die Türkei tabellarisch wesentliche Informationen über die beobachteten Abschiebungen aufgeführt. In der Sektion Reports finden sich detailliertere Dokumentationen von Einzelfällen, wobei insbesondere auf rechtswidrige Abschiebungen und Abschiebungen in rechtlichen Grauzonen eingegangen wird. Auch sogenannte „freiwillige Rückführungen“ werden dokumentiert werden.  Auf der Unterseite  EU-Turkey Deportation Regime werden zudem vertiefende Analysen zur Entwicklung des Europäischen Grenzregimes in der Ägäis veröffentlicht werden.

OVG Niedersachsen entscheidet gegen Abschiebung nach Bulgarien

Am 29.01.2018 stellte das Oberverwaltungsgericht Niedersachsen in einem Urteil fest:

1. Es ist mit Art. 3 EMRK unvereinbar, wenn sich ein Asylbewerber, der von staatlicher Unterstützung vollständig abhängig ist und sich in einer gravierenden Mangel- oder Notsituation befindet, staatlicher Gleichgültigkeit ausgesetzt sieht.

2. Eine solche Mangelsituation, der der bulgarische Staat nicht mit geeigneten Maßnahmen begegnet, droht anerkannten Schutzberechtigten bei einer Rücküberstellung nach Bulgarien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

In der Entscheidung greift das Gericht die Punkte Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit und Verelendung auf. Anerkannte Schutzberechtigte hätten „in der Regel faktisch keinen Zugang zu Wohnraum“ und „zudem große Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle zu erlangen, um die für Wohnraum und den übrigen Lebensbedarf benötigten Mittel zu erwirtschaften“. Dies führe zur „Gefahr der Verelendung, da auch kein Zugang zu Sozialhilfe besteht.“

Nicht nur von zahlreichen Menschenrechtsorganisationen, sondern auch von der Europäischen Kommission war jüngst massive Kritik an den Zuständen geäußert worden. Weiterhin verurteilte der EGMR Bulgarien am 7.12. 2017 wegen eines Verstoßes gegen Artikel 3 (Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) aufgrund der Haftbedingungen, denen eine irakische Familie mit drei Kindern im Jahr 2015 ausgesetzt war.

In Zukunft werden wir relevante Gerichtsentscheidungen, NGO-Berichte und Presseartikel auch in unsere Recherche-Datenbank einpflegen, die sich bisher ausschließlich auf Ungarn bezieht.

From Transit Hub to Dead End: A Chronicle of Idomeni

Download as PDF

In spring 2016, after the formalized corridor across the Balkans was closed entirely, the informal refugee camp in Idomeni (at the border between the Greece and the Republic of Macedonia) was captured in the media glare for months. The story of Idomeni is, however, much more than the spectacle of a few months of human suffering and humanitarian aid. It started long before and continues until today. In the first chapter, it is described, how, and why, Idomeni became an important site of transit migration, with a growing number of migrants using the Idomeni region to leave Greece clandestinely from as early as 2010. In chapter two, it is shown how the situation in Idomeni changed, when one South-East European government after another implemented formal procedures for transit migrants to pass through their countries. Another turning-point in the history of Idomeni is marked by the gradual closure of the formalized corridor, beginning in November 2015, until the final eviction of Idomeni in May 2016. The strategy of the Greek government, aiming to replace the informall camps and their anarchical humanitarianism by state-controlled camps all over Northern Greece is discussed in the third chapter.

Bundesweite Wanderausstellung: Yallah!? Über die Balkanroute

Im November wird die Wanderausstellung „yallah!? über die Balkanroute“ in Göttingen eröffnet, die im Laufe der nächsten Monate noch in anderen Städten zu sehen sein wird. In der Ankündigung der Ausstellung heißt es:

Nach und nach rücken der Sommer 2015, der „March of Hope“ von Budapest nach Österreich und die „Willkommen!“ rufenden Menschen an deutschen Bahnhöfen immer weiter in die Ferne. Während 2015 die geöffneten Grenzen die Stimmung elektrisiert haben, ist die heutige Debatte zum Thema Flucht immer öfter dominiert von Diskussionen über Grenzsicherung, Terror und rassistischen Perspektiven. Dem entgegen soll mit dieser Ausstellung der „langen Sommer der Migration“ 2015 und die Öffnung eines Korridors durch Süd-Osteuropa als relevantes politisches und historisches Ereignis festgehalten und gut aufgearbeitet einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Die Ausstellung rückt zwei Jahre später Geflüchtete als Hauptakteur_innen wieder in den Vordergrund und zeigt mit zahlreichen Audio-, Foto- und Videoaufnahmen sowie Kunstwerken ihre Sichtweisen auf Migration und Europa.

Zum öffnen auf das Bild klicken

Bordermonitoring.eu trug zu der Ausstellung eine  interaktive Timeline bei, die den Zusammenbruch und die darauf folgende Restrukturierung des Europäischen Grenzregimes auf dem Balkan visualisiert: Von der Einführung des „72-Stunden-Papiers“ im Mazedonien im Juni 2015 bis zur Räumung des informellen Camps in Idomeni im Mai 2016.

Bundesverfassungsgericht untersagt Abschiebung nach Bulgarien

Mit Beschluss vom 29. August 2017 hob das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zuvor ergangene Beschlüsse des VG Minden auf und wies diese zurück. Damit wurde die Abschiebung einer aus Syrien stammenden alleinerziehenden Mutter mit vier minderjährigen Kindern nach Bulgarien vorläufig untersagt. Das BVerfG äußert sich dabei nicht weiter dazu, ob Rückführungen nach Bulgarien grundsätzlich zulässig sind, sondern stellt  fest:

Unabhängig davon, ob Abschiebungen nach Bulgarien unter den derzeitigen Bedingungen überhaupt zulässig sind und welche Vorgaben für die Rückführung anerkannt Schutzberechtigter gelten – über diese Fragen wird im vorliegenden Verfahren nicht entschieden-, ist angesichts der Bestimmungen der EU-Aufnahmerichtlinie für besonders schutzbedürftige Personen in Art. 21 ff., der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 17. September 2014 (Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. September 2014 – 2 BvR 732/14 -, juris, Rn. 10 ff.) und der Tarakhel-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Entscheidung vom 4. November 2014 – 29217/12 -) eindeutig, dass den Belangen von Familien mit Kindern besonders Rechnung getragen werden muss. Mit diesem zentralen Vortrag setzt sich das Verwaltungsgericht in den angegriffenen Entscheidungen nicht auseinander […]. Im Anhörungsrügebeschluss setzt sich das Verwaltungsgericht lediglich mit der – kein Abschiebungsverbot begründenden – Krankheit der Beschwerdeführerin […] auseinander. Es hätte sich jedoch aufgedrängt, zu den Voraussetzungen Stellung zu nehmen, unter denen es einer alleinerziehenden Mutter mit vier Kindern, von denen das jüngste vier Jahre alt ist, in einer Flüchtlingen ablehnend gegenüber stehenden Umgebung zumutbar ist, zunächst auf der Straße zu leben. Hieran ändert auch die nur durch Einzelfälle einer erfolgreichen Wohnungssuche begründete Erwartung des Verwaltungsgerichts nichts, dass es nach einiger Zeit eine Möglichkeit für die Familie geben könnte, eine Wohnung zu finden.

Mathias Fiedler vom Projekt Bordermonitoring Bulgaria stellt hierzu fest: „Das BVerfG tut gut daran, die Entscheidungen des VG Minden zurückzuweisen. Aber nicht nur Familien, sondern auch alleinstehende Schutzberechtigte sind in Bulgarien massiv von Obdachlosigkeit bedroht und haben so gut wie keine Chance, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Zwar hat die Regierung die formellen Voraussetzungen geschaffen, damit Gemeinden Integrationsvereinbarungen abschließen können, allerdings geschah dies in der Praxis bisher so gut wie nie“.

Weitergehende Informationen zu Bulgarien finden sich hier

politiken, praktiken, ereignisse an den grenzen europas