Die ungarische Regierung erklärte kürzlich, keine Dublin-Rückkehrer_innen mehr zurücknehmen zu wollen. In einem Artikel auf dem Blog Bordermonitoring Ungarn beschreiben und analysieren wir die letzten Entwicklungen diesbezüglich und berichten zudem von unseren Besuchen der serbisch/ungarischen Grenze.
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Übernahmeersuchen an Ungarn und tatsächliche Überstellungen
Insgesamt wurden im Jahr 2014 7.961 Übernahmeersuchen unter der Dublin-VO an Ungarn gerichtet und 827 Personen tatsächlich überstellt. Aus Deutschland wurden 2014 3.913 Anfragen an Ungarn gerichtet und lediglich 178 Personen tatsächlich überstellt. Die Zahl der Übernahmeersuchen von Deutschland an Ungarn steigt weiter an: So gab es im 1. Quartal 2015 bereits 2.952 Übernahmeersuchen (im 4. Quartal 2014 „nur“ 1.992) und lediglich 42 Personen wurden überstellt (im 4. Quartal 2014: 37).
Ungarn verfügt nicht einmal ansatzweise über genügend Aufnahmekapazitäten, um die Personen – für die es laut Dublin-VO eigentlich zuständig wäre – auch unterzubringen: Die Gesamtkapazität der offenen Lager liegt bei gerade einmal 1.864 Plätzen, zuzüglich 499 Plätzen in der sog. „Asylhaft“.
Laut bordermonitoring.eu e.V. vorliegenden Informationen macht das BAMF zwar gegenwärtig insbesondere bei Kosovaren vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch, um die Betroffenen nicht nach Ungarn überstellen zu müssen, sondern direkt in den Kosovo abschieben zu können. Allerdings wird auch diese „Strategie“ kaum Abhilfe schaffen können, steigt doch die Zahl der in Ungarn registrierten Flüchtlinge weiter rapide an, wobei Personen aus dem Kosovo mittlerweile nur noch ein Bruchteil ausmachen:
- April 2015: 354 Asylanträge von Kosovaren, 2.311 Asylanträge von Afghanen, 1.771 von Syrern, Gesamt: 6.689)
- Mai 2015: 192 Asylanträge von Kosovaren, 4.719 Asylanträge von Afghanen, 2.059 Asylanträge von Syrern, Gesamt: 9.972)
Erschwerend kommt für das BAMF weiterhin hinzu, dass laut einem aktuellen EASO-Bericht Ungarn momentan maximal 12 Personen täglich aus allen anderen Dublin-Staaten zurücknimmt.
Die genannten Zahlen belegen einmal mehr und sehr anschaulich das Scheitern der Dublin-VO. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass Ungarn in naher Zukunft Willens oder auch nur in der Lage sein wird, Zehntausende Asylsuchende aus den anderen Dublin-Staaten (vor allem Deutschland) zurückzunehmen.
Mehr zu den aktuellen Entwicklungen in Ungarn bei Bordermonitoring Ungarn
Gesetzesverschärfungen und „nationale Konsultation“ in Ungarn
Aufgrund des drastischen Anstiegs der Asylbewerberzahlen in Ungarn (die sich innerhalb von nur zwei Jahren verzwanzigfacht haben), wird es in naher Zukunft wohl zu einigen weitreichenden Gesetzesverschärfungen kommen, darunter u.a.:
1. Inhaftierung aller irregulären Migranten/Asylsuchenden
2. Durchführung der Asylverfahren innerhalb weniger Tage
3. Verpflichtung zur gemeinnützigen Arbeit.
Ausführlich hierzu in diesem Artikel des Europäischen Flüchtlingsrats (ECRE) und in dieser Presseinformation des Ungarischen Helsinki Komitees. Bisher ist allerdings noch nichts verabschiedet und es liegt noch nicht mal ein Gesetzesvorschlag vor. Die Aussagen Orbáns der letzten Zeit lassen allerdings wenig Zweifel daran, dass es bald zu massiven Verschärfungen kommen wird. Im Rahmen einer „nationalen Konsultation“ wird sogar die komplette ungarische Bevölkerung diesbezüglich befragt. Der Pester Llyod hat die (Suggestiv-)Fragen auf Deutsch übersetzt (dort findet sich auch ein Scan des Originalfragebogens):
1. Wie bedeutsam ist die Thematik des anwachsenden Terrorisums` für Ihr eigenes Leben?
2. Könnte Ihrer Meinung nach Ungarn in den kommenden Jahren Ziel des Terrorismus werden?
3. Manche sagen, dass die fehlgeleitete Einwanderungspolitik Brüssels zum Anwachsen des Terrorismus führt. Stimmen Sie damit überein?
4. Wußten Sie, dass Wirtschaftsflüchtlinge die Grenze illegal überqueren und das deren Zahl zuletzt um das 20fache gestiegen ist?
5. Stimmen Sie der Meinung zu, dass Wirtschaftsflüchtlinge die Jobs und Existenzen der ungarischen Menschen gefährden?
6. Manche sagen, dass Brüssels Politik zu Einwanderung und Terrorismus gescheitert ist. Stimmen Sie dem zu?
7. Würden Sie die ungarische Regierung bei ihren Bemühungen zur Einführung strengerer Einwanderungsregeln als sie Brüssel vor hat, unterstützen?
8. Würden Sie eine neue Gesetzgebung befürworten, die es der ungarischen Regierung erlaubt, Einwanderer, die illegal ins Land einfereist sind, in Haft zu nehmen?
9. Sollten Ihrer Meinung nach illegal nach Ungarn Eingewanderte so schnell wie möglich in ihre Länder zurückgeschickt werden?
10. Sind Sie einverstanden, dass die Wirtschaftsflüchtlinge, die in Ungarn bleiben, die Kosten ihres Aufenthalts decken müssen?
11. Stimmen Sie damit überein, dass die beste Abwehr von Einwanderung in der Wirtschaftshilfe für die Herkunftsländer besteht?
12. Stimmen Sie mit der ungarischen Regierung überein, anstelle von Mitteln für die Einwanderung bereit zu stellen, wir ungarischen Familien und die Kinder, die noch geboren werden, unterstützen sollen?
Update (3.6.2015): Aufgrund der geringen Resonanz wurde die Befragung um zwei Monate verlängert, unterstützt von einer Anzeigen- und Plakatkampagne („Wenn Du nach Ungarn kommst, darfst Du keine ungarischen Jobs wegnehmen!“). Mehr zu den aktuellen Entwicklungen bei Bordermonitoring Ungarn.
VG Berlin, VG München und VG Augsburg zu Ungarn
Bereits Anfang diesen Jahres änderte die 23. Kammer des VG Berlin ihre langjährige Rechtsprechungspraxis und geht nun von „systemischen Mängeln“ in Ungarn aus. Folglich wurde auch die Überstellung des Antragstellers untersagt – zumindest vorläufig. Anlässlich dieser Gerichtsentscheidung veröffentlichte die Stadt Berlin sogar eine Pressemitteilung auf ihrer Webseite. Am 16.3.2015 schloss sich nun auch die 36. Kammer des VG Berlin den Ausführungen der 23. Kammer an. Damit reiht sich nun auch das VG Berlin in eine ganze Reihe von positiven VG-Beschlüssen zu Ungarn ein, wobei die hier zugrunde liegende Argumentation besondere Beachtung verdient. Denn obwohl ein Verstoß gegen Artikel 3 EMRK bzw. Artikel 4 GrRCh („Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung“) im Hinblick auf die Haftbedingungen in Ungarn verneint wird, untersagt das Gericht die Überstellung dennoch unter Verweis auf die Dauer der Haft ohne effektiven Rechtsschutz (Verletzung von Artikel 6 GrRCh). Dies übrigens unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme des UNHCR sowie eine gemeinsame Stellungnahme von uns und Pro Asyl. Das VG München schloss sich der Rechtsauffassung des VG Berlin kürzlich in einem Hauptsacheverfahren an. Weiterhin entschied das VG Augsburg kürzlich in einem Hauptsacheverfahren, dass im Falle eines psychisch erkrankten in Ungarn anerkannten Flüchtlings ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 vorliegt, unter anderem mit Verweis auf unseren Ungarnbericht. Allerdings ist die Entscheidungspraxis der Verwaltungsgerichte hinsichtlich Ungarn nach wie vor sehr unterschiedlich. Zu dieser Thematik hier ein aktueller Radiobeitrag des BR , in dem wir auch kurz zu Wort kommen.
ARD und SPIEGEL zur Ukraine
Kürzlich recherchierten Journalisten des Spiegel und der ARD – mit Unterstützung von bordermonitoring.eu – zur Situation der internationalen Flüchtlinge in der Ukraine. Aus dieser Recherche entstand ein sehr lesenswerter Artikel in der Druckversion des Spiegel (leider ist der Beitrag online nicht verfügbar, sondern nur eine Kurzversion und ein kurzes Video). Weiterhin gab es einen Bericht in den Tagesthemen und bei Report Mainz. Weitere Informationen finden Sie auf der Sonderseite Bordermonitoring Ukraine.
Update (30.3.2015): Hier ein Interview mit uns zur Thematik in dem Magazin „konkret“.
Update (16.5.2015): Hier ein Interview mit uns zur Thematik in dem Magazin „analyse und kritik“.
Tagesthemen:
Report Mainz:
The Forgotten? International refugees in Ukraine live life on a breadline
Anlässlich einer Protestaktion von internationalen Flüchtlingen in der Ukraine gegen ihre miserablen Lebensbedingungen besuchte bordermonitoring.eu die Protestierenden und veröffentlichte einen Artikel unter dem Titel „The Forgotten? International refugees in Ukraine live life on a breadline“.
Stellungnahmen an das VG Düsseldorf und das VG München
In Kooperation mit Pro Asyl und dem Ungarischen Helsinki Komitee beantwortete bordermonitoring.eu kürzlich Anfragen des VG Düsseldorf und des VG München. Die Stellungnahmen finden sich hier:
Kirchenasyl und Ungarn
Der BR hat ein langes Special zu Kirchenasyl und zu Ungarn produziert (Sonderseite, Radiobeitrag, Fernsehbeitrag). Wir kommen auch zu Wort. Ebenso Innenminister Herrmann:
Entweder man bekennt sich zur EU oder man lässt es sein. Einerseits Begeisterung für die EU, die ich im Prinzip teile, aber dann bei jeder Kleinigkeit zu sagen: Bei denen ist es aber schlechter als in Deutschland.
Eine Inhaftierung bis zu sechs Monaten, de facto ohne richterliche Kontrolle und dazu oftmals unter fragwürdigen Bedingungen ist für den bayerischen Innenminister also eine „Kleinigkeit“. Glücklicherweise sehen das nicht wenige Verwaltungsgerichte anders (siehe unsere Recherche-Datenbank).