Nationalstaaten als die besseren „Schleuser“

Von Bernd Kasparek und Marc Speer

Unglaubliches geschieht momentan in Europa. Nationalstaaten, ob EU-Mitglieder oder nicht, betätigen sich aktiv als „Schleuser“. Und dies wesentlich effizienter, als es „Kriminelle“, die jenseits staatlicher Strukturen agieren, jemals getan haben. Paradoxerweise ist es nicht der angekündigte knallharte Kampf gegen „Kriminelle“, der diese in die Arbeitslosigkeit treibt, sondern es sind die wesentlich besser organisierten staatlichen Strukturen, die täglich ganze Züge voll nicht registrierter Flüchtlinge unglaublich schnell durch Europa schicken. Während wir diese Zeilen schreiben, erreicht uns über twitter die Nachricht, dass eben der 55. Sonderzug von der serbisch-kroatischen Grenze an die kroatisch-ungarische Grenze gefahren ist.

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Die serbisch-kroatische Grenze überschreiten die Flüchlinge zuvor  am Rande der Kleinstadt Šid, wie wir bereits in unserem letzten Beitrag berichteten. Vor einigen Wochen, als sich die Route nach Kroatien verlagerte,  d.h. seit die Busse aus Preševo in Südserbien nicht mehr nach Belgrad bzw. Nordserbien fahren sondern nach Šid, waren die kroatischen Behörden überraschenderweise zunächst völlig überfordert. Überraschend deswegen, weil schon seit Monaten klar war,  dass es mit der Fertigstellung des Zauns an der serbisch-ungarischen Grenze genau hierzu kommen würde. Darauf wurde seit Monaten von etlichen Seiten hingewiesen (u.a. von uns). In Tovarnik, auf der kroatischen Seite der Grenze zu Serbien kam es sogar fast zu einer Tragödie, bei der die ersten Flüchlinge kurz davor waren, in einem über Stunden hinweg verschlossenen und nicht klimatisierten Zug (in dem sich die Fenster nicht öffnen ließen) zu kollabieren. Nur das couragierte Eingreifen einiger Aktivisten konnte dies gerade noch verhindern. Weiterhin ergab sich eine Situation, bei der Flüchlinge auf einem Friedhof übernachten mussten und vor dem Lager bildeten sich lange Schlangen.  Mittlerweile scheint das Lager in Opatovac – in Zusammenspiel von Staat, Rotem Kreuz und UNHCR – allerdings ganz gut organisiert zu sein. Diese Akteure beanspruchen nun auch die „Führungsrolle“ gegenüber den selbstorganisierten Aktivisten, die zuvor über lange Zeit hinweg die einzigen waren, die vor Ort die Versorgung sichergestellt haben.

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Vor dem Lager
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Vor dem Lager
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Im Lager

Nach einigen Stunden oder manchmal auch Tagen werden die Flüchtlinge von Opatovac aus weiter in Richtung der ungarischen Grenze gebracht. Einige mit Bussen, die meisten mit den zu Beginn dieses Artikels bereits erwähnten Sonderzügen. In Botovo halten diese Züge dann und von dort aus laufen die Flüchtlinge ungefähr einen Kilometer über die „grüne Grenze“, um umgehend in die wiederrum zwei bis vier Sonderzüge täglich einzusteigen, die sie von Zákány auf der ungarischen Seite nach Hegyeshalom an die österreichische Grenze bringen. Ein freiwilliger Feuerwehrmann auf der kroatischen Seite lieferte eine erstaunlich einfache und einleuchtende Erklärung für dieses Prozedere: Wenn die Flüchtlinge nicht über den offiziellen Grenzübergang laufen oder fahren, sondern einige Hundert Meter daneben, kann der Grenzschutz einfach wegschauen, mit der Konsequenz, dass dann auch niemand kontrolliert werden muss, den man ja gar nicht sieht. Bis vor wenigen Monaten hätten wir uns schlichtweg nicht vorstellen können, dass Bürokratie überhaupt in der Lage sein kann, spontan derart pragmatisch zu agieren. Zurück zu Zákány, wo wir vor etwa einer Woche Zeugen dieses Spektakels wurden.

Etwa dreihundert Meter vom „offiziellen“ Bahnhof wartet dort ein abgedunkelter Zug mit etwa 20 Waggons. Einer nach dem anderen wird durch einen variablen Polizeikorridor gefüllt, der an einem Feldweg aus Richtung der Grenze beginnt. „Schicksalsergeben“ ist wohl das passendste Wort um diese Situation zu beschreiben. Alles ist sehr ruhig und irgendwie geordnet. Das liegt sicherlich vor allem daran, dass neben der ungarischen Polizei auch schwer bewaffnete Soldaten vor Ort sind. In einer solchen Situation würden wohl die meisten Menschen keine Fragen stellen.

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Soldaten in Zákány

Das einzige,  was in dieser bedrohlichen Atmosphäre ein wenig kontrollierend wirkt, sind ein paar Freiwillige, die ebenfalls vor Ort sind. Wir möchten uns lieber nicht ausmalen, was hier passieren könnte, wenn diese unabhängigen Zeugen nicht da wären. Nachdem der Zug voll ist haben die Freiwilligen genau fünf Minuten Zeit (so der inoffizielle „Deal“), die im Zug Sitzenden von unten aus durch die Fenster hindurch mit Wasser und Nahrungsmitteln zu versorgen. Wir haben den Fehler gemacht, nachdem unserere IKEA-Tüte mit Sandwiches leer war, Zigaretten zu verteilen. Illusorisch für Hunderte von Leuten und auch nicht gerade friedensstiftend, weil natürlich auch nicht alle rauchen. Leason learnt.

An der kroatisch-ungarischen Grenze wurde zwischenzeitlich übrigens ebenfalls mit dem Bau eines Zauns begonnen. Hieran sind auch ungarische Sozialhilfeempfänger beteiligt, die vom Staat zur Zwangsarbeit verpflichtet werden. Nach den Erfahrungen des Zaunbaus an der Grenze zu Serbien, wo über Wochen hinweg Tausende durch das Loch im Zaun auf den Bahngleisen bei Röszke schlüpften, steht nun in Zákány bereits „Mad Max 2“ bereit. Ein ähnlicher, von den ungarischen Medien als „Mad Max“ bezeichneter Waggon stopfte bereits in Röszke erfolgreich das Loch im Zaun.

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Freiwillige Helfer, Polizisten und Zwangsarbeiter in Zákány
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Mad Max 2 in Zákany

Wir erleben momentan einen rasanten Umschwung in der Praxis der Migrationskontrolle. Der von der EU jahrzehntelang beschworene Kampf gegen die „illegale Migration“, der ja so oder so selten zu den proklamierten Ergebnissen geführt hat, ist vorbei. Jegliche Versuche der Immobilisierung der Migration, sei es durch Zäune, Grenzkontrollen, Registrierungsstellen und Internierungslager ist zumindest auf dem Balkan aufgegeben worden. Besonders prägnant ist, dass sogar Ungarn, welches in den letzten Monaten auf Grund des Baus einesZauns an der Grenze zu Serbien quasi zum Sinnbild einer auf totalen Kontrolle abzielenden Migrationspolitik geworden ist, mittlerweile beteiligt ist am staatlichen Schleusen der Flüchtlinge.

Wenn wir – vorzeitig – versuchen würden, einige Erkenntnisse zu formulieren, so ist es mittlerweile offensichtlich, dass die Politik der Abschottung gescheitert ist, und eine neue, eine andere Migrations- und Flüchtlingspolitik in Europa so wichtig wie noch nie ist. Die intensive Mobilität über Europas Grenzen hinweg, und die intensive Willkommenskultur von unten sowie die Solidarität, die sich entlang der Routen entfaltet hat, zeigen, dass die Gesellschaften in Europa weiter sind als die Politik.

Die Hartnäckigkeit der politischen Beharrungskräfte zeigt sich nicht nur in den Grenzkontrollen im Schengenraum und der rapiden, repressiven Verschärfung der Asylgesetzgebung in Deutschland. Am deutlichsten wird das Festhalten an den alten, gescheiterten Konzepten in den aktuellen Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei. Die EU bemüht sich seit 2003, die Türkei in das europäische Grenz- und Migrationsregime einzubeziehen. Nun werden diese Bemühungen verstärkt, und der zunehmens autokratischer handelnde türkische Präsident Erdoğan wird hofiert. Er soll nun das richten, woran Europa gescheitert ist: die Kontrolle der Migrationsbewegungen.

Die EU ist jedoch dabei, einen schwerwiegenden Fehler zu wiederholen, der zur jetzigen Situation beigetragen hat. Denn die Migrations- und Grenzpolitik der EU im zentralen Mittelmeer baute während der 2000er Jahre in gleicher Weise auf die Kooperation mit autokratischen Regimen, sei es Gaddafis Libyen oder Ben Alis Tunesien. Diese Kooperationen führten nicht nur zu schwersten Menschenrechtsverletzungen gegenüber MigrantInnen, die EU machte sich damit auch erpressbar. Solange die Kooperation Erfolge – was immer die Verhinderung von Flucht und Migration bedeutete – zeigte, wurden alle Debatten um eine nachhaltige und menschenwürdige Migrationspolitik im Keim erstickt. Erst die sozialen und demokratischen Aufstände des Arabischen Frühlings fegten diese Kooperationen hinweg und stürzte die EU-Migrationspolitik in eine schwere Krise. Die Auswirkungen der Krise erleben wir heute.

Notwendig wäre nun ein Umdenken, welches sich an der tatsächlichen und existierenden Aufnahmebereitschaft der europäischen Gesellschaften orientiert. Eine Politik, die Flüchtlinge und Migration nicht mehr als Bedrohung wahrnimmt, sondern in ihrer Sozialität ernst nimmt, hat keinen Bedarf an Kooperation mit Diktaturen und autokratischen Regimen, an Mauern und Zäunen, und an pseudo-heimlichen Schleusungen.