Nun ist er endlich weg. Der Rücktritt des Exekutivdirektors der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, war schon lange überfällig und dennoch eine Überraschung. Denn seit dem Bekanntwerden der ersten Vorwürfe gegen die Agentur im Herbst 2020 klebte Leggeri an seinem Posten, zeigte weder Problem- noch Unrechtsbewusstsein und konnte sich scheinbar darauf verlassen, dass weder die EU-Mitgliedstaaten noch die Europäische Kommission Interesse daran hatten, die Agentur durch den Sturz ihres Exekutivdirektors zu schwächen. Denn die Agentur befindet sich aktuell in einer entscheidenden Phase ihrer Transformation zur ersten uniformierten europäischen Polizeieinheit.
Diese signifikante Zäsur im europäischen Projekt ist auch Gegenstand des Schweizer Frontex-Referendums am 15. Mai 2022. Nur vordergründig geht es um die Erhöhung des Schweizer Beitrags zur Agentur auf 61 Mio. Franken. Die tatsächliche Fragestellung ist, ob eine Agentur, die schon jetzt jeglicher demokratischen Kontrolle entzogen ist und die mit Straflosigkeit an den Grenzen Europas agiert, noch weitere Kompetenzen und Personal erhalten soll. Mit dem Rücktritt Leggeris wurde dies nocheinmal untermauert.
Doch die Europäische Kommission versucht nun, den Rücktritt des Exekutivdirektors als Befreiungsschlag darzustellen und behauptet, die Schuld für die vielfachen Skandale sei alleinig in der Person des Exekutivdirektors zu suchen. Dies ist natürlich ebenso falsch wie die Drohung mit einem Schengen-Ausschluss, falls die Schweiz gegen die Ausweitung der Kompetenzen und des Budgets der Agentur stimmen würde. Es unterstreicht aber, mit welcher Macht die Kommission den massiven Ausbau der Agentur vorantreiben und jegliche Debatte unterbinden will. Auch aus diesem Grund hatte sie Leggeri in den letzten 18 Monaten, als in den Medien vermehrt investigative Enthüllungen über die Agentur bekannt wurden, immer wieder den Rücken gestärkt.
Doch Ende April 2022 wurde der Druck zu groß. Dem Verwaltungsrat, also dem Organ, welches die Agentur beaufsichtigen und kontrollieren soll, welches die alleinige Befugnis hat, den Exekutivdirektor abzuberufen und in dem die teilnehmenden Staaten wie auch die Kommission vertreten sind, lag schon seit Wochen ein über 200-seitiger Bericht der europäischen Antikorruptionsbehörde OLAF vor. Öffentlich ist dieser Bericht bisher nicht geworden, doch es hieß immer wieder, dass er die Verfehlungen mehrere Personen an der Spitze von Frontex nachweise. In dem Bericht ging es vor allem um die Frage, ob Frontex an Pushbacks – also rechtswidrigen und oftmals gewalttätigen Zurückweisungen von Schutzsuchenden an Europas Grenze – beteiligt sei oder zumindest um diese Praxis nationaler Grenzschutzeinheiten wisse, dieses Wissen aber verschleiere und so die Gewalt dulde und implizit unterstütze. Darüber hinaus scheint es im Bericht aber auch um Vorwürfe zu gehen, dass es innerhalb der Agentur zu Fehlverhalten und Drangsalierungen gekommen sei. Nach allem, was bisher bekannt ist, sollen Leggeri, aber auch sein Büroleiter Thibault de La Haye Jousselin, einen sehr autoritären Führungsstil gepflegt haben, der darauf abzielte, Macht und Kompetenzen noch weiter um den Exekutivdirektor zu zentralisieren und der wenig Raum für Widerspruch oder Diskussion ließ. Weiter steht die Frage, ob Gelder missbräuchlich genutzt wurden, im Raum. Kurzum: Die Vorwürfe zeichnen das Bild einer Agentur, die unkontrollierbar ist, sich verselbständigt hat und sich auch nicht an europäisches Recht gebunden fühlt.
Von Beginn an umkämpft
Die europäischen Bewegungen des Antirassismus und der Solidarität mit Migrant_innen, NGOs wie auch die kritische Forschung haben Frontex seit der Gründung im Jahre 2004 misstrauisch beäugt. Denn schon vor knapp zwanzig Jahren zeichnete sich ab, dass mit der Europäisierung der Migrations- und Grenzpolitik durch den Vertrag von Amsterdam (1997) und im Besonderen durch die Gründung der Agentur Frontex eine Entwicklung begann, die aus verschiedenen Gründen problematisch war. Zum einen vernetzte die Agentur Akteure aus polizeilichen, militärischen und nachrichtendienstlichen Milieus und brachte diese zum anderen mit Rüstungsunternehmen, die das in den 2000er Jahren entstehende Geschäftsfeld der europäisierten, technisierten Grenzkontrolle entdeckten, zusammen. Gleichzeitig entstand mit der Agentur ein zunehmend mächtiger Akteur der Migrationskontrolle, der diese zutiefst politische Frage jedoch durch das Argument, lediglich Techniken des europäisierten Grenzschutzes zu adressieren, de-politisierte. Zu guter Letzt entstand mit der Agentur auch ein europäisches Exekutiv-Organ, welches weder durch Legislative, Judikative noch durch ein eigenes Aufsichtsregime eingehegt ist. Damit stellte die Agentur von Beginn an ein einschlägiges Beispiel für das oftmals konstatierte Demokratiedefizit der Europäischen Union in Form einer sich verselbständigenden Exekutive dar.
Von Beginn an war es jedoch schwierig, diese recht abstrakte Kritik mit der Praxis der Agentur in Verbindung zu bringen. Denn qua Konstruktion blieb die Agentur eher im Hintergrund. Die tagtägliche Arbeit der Grenzkontrolle und -überwachung wurde weiterhin von den Grenzschutzinstitutionen der Mitgliedstaaten durchgeführt. Und die zusätzlichen Grenzschutz-Operationen der Agentur an verschiedenen Orten an der Grenze Europas wurden zwar durch sie koordiniert und finanziert, durchgeführt wurden sie jedoch erneut durch die Mitgliedstaaten.
Doch das Wirken im Hintergrund bedeutete keinesfalls, dass die Agentur keinen Einfluss nahm. Die Einführung von Eurosur – dem Europäischen Grenzüberwachungssystem – im Jahre 2013 ging auf eine Machbarkeitsstudie der Agentur zurück, in der die Vernetzung verschiedener Grenzüberwachungstechnologien wie etwa Drohnen oder Satelliten geprüft wurde. Schwerwiegender noch war die Einflussnahme der Agentur im Jahr 2014, als Italien auf Druck der Europäischen Union die militärisch-humanitäre Operation Mare Nostrum im Zentralen Mittelmeer beenden musste. Offizielles Ziel der Operation war es, das Sterben von Migrant_innen im Mittelmeer zu beenden, was auch zeitweise gelang. Doch nach einem Jahr wurde Mare Nostrum beendet und durch die Frontex-Operation Triton ersetzt, die nun erneut dem Schutz der Außengrenzen der EU Vorrang vor dem Schutz von Menschenleben einräumte. Prompt stiegen die Todeszahlen im Mittelmeer.
Krisengewinner Frontex
Überraschender Weise war die Agentur jedoch im Sommer der Migration 2015 monatelang absent. Leggeri hatte Anfang 2015 noch davor gewarnt, dass in Libyen Hunderttausende Migrant_innen darauf warteten, die Überfahrt nach Italien anzutreten. Damit bewies er zum einen, dass die von der Agentur vielfach gerühmten Vorhersage-Fähigkeiten der so genannten Risikoanalyse im besten Falle zweifelhaft waren, zum anderen muss seine Aussage als gezielter Versuch der politischen und unlauteren Einflussnahme gewertet werden. Doch danach war nicht mehr viel von der Agentur zu hören, was sich im Rückblick sicherlich als Glücksfall darstellt. Ein Szenario, in dem die Agentur mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln versucht hätte, die Bewegungen der Migration zu unterbinden, hätte nur zu Elend, Gewalt und Tod führen können.
Dennoch war Frontex der größte Profiteur dieser bewegenden Monate. Noch im Dezember 2015 schlug die Europäische Kommission eine massive Kompetenzausweitung der Agentur vor. Anstelle ihrer Koordinierungsfunktion solle sie nun das neue Konstrukt einer Europäischen Grenz- und Küstenwache dirigieren und erhielt dafür ihren neuen Namen Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Die neue Verordnung kodifizierte zudem, wie Grenzverwaltung (im Englischen: border management) in der Europäischen Union zu erfolgen habe und gestand der Agentur erste Aufsichtsfunktionen zu. Eine zweite, noch umfassendere Kompetenzerweiterung fand 2019 statt. Nicht nur fusionierte die neue Verordnung Frontex mit Eurosur und stattete die Agentur damit mit einem umfassenden technischen System der Grenzüberwachung aus. Vor allem erhielt die Agentur die Kompetenz und das Budget, um bis zum Jahr 2027 eine ständige Reserve von 10.000 europäischen Grenzschützer_innen aufzubauen.
Die Bedeutung dieser neuen Verordnung für die europäische Integration kann nicht stark genug betont werden. Denn zum ersten Mal in ihrer Geschichte legt sich die Europäische Union eine uniformierte Vollzugsbehörde zu, die tagtäglich an Europas Grenzen im Einsatz sein soll. Die Einführung dieser Insignien von Staatlichkeit, normalerweise Gegenstand penibler Diskussionen im europäischen Projekt, ging jedoch ohne größere Debatte von statten und stützte sich auf einen eher vagen Artikel im Vertrag von Lissabon, der der EU die Kompetenz zugesteht, Maßnahmen für eine gemeinsame Grenzverwaltung zu ergreifen. Ob damit wirklich auch gemeint war, wichtige verfassungsrechtliche Fragestellungen wie demokratische Legitimation und eine funktionierende Gewaltenteilung unter den Tisch fallen lassen zu dürfen, darf getrost bezweifelt werden.
Neue Methoden
Doch auch jenseits dieser großen, verfassungsrechtlichen Fragen hatte schon lange davor eine Allianz aus Aktivismus, kritischer Forschung und Journalismus begonnen zu dokumentieren, dass das europäische System der Grenzkontrolle zu Gewalt und Tod führte.
Schon 2008 fand eine erste Demonstration vor dem Hauptquartier der Agentur in Warschau statt, während das Noborder Camp 2009 auf der griechischen Insel Lesbos die griechische Küstenwache trickreich dazu provozierte, am hellichten Tag im Hafen von Mytilini zu demonstrieren, wie sie bei Pushbacks vorgeht. Der Protest gegen und die Kritik an der europäischen Migrationspolitik, ob innerhalb oder außerhalb Europas Grenzen, schloß vermehrt auch die Kritik an Frontex ein und sorgte so überhaupt dafür, dass die Agentur einem breiteren Publikum bekannt wurde. Zunehmend interessierten sich so auch Medien für diese ungewöhnliche Institution der Europäischen Union.
Einen wichtigen Durchbruch stellten die Arbeiten von Forensic Architecture/Forensic Oceanography dar, die in einzelnen Fällen, wie etwa 2012 im Fall des Left-To-Die Boots minutiös nachzeichnen konnten, wie bestimmte Handlungen und Unterlassungen im Multi-Akteurs-System des europäischen Grenzregimes eine Katastrophe mit tödlichem Ausgang produzierte. Die Arbeit plausibilisierte aber vor allem die neue Möglichkeit, die Gewalt der europäischen Grenze in das Licht einer kritischen Öffentlichkeit zerren zu können.
Seit 2014 dokumentierte das Netzwerk des Alarmphone erst im zentralen Mittelmeer und später auch in der Ägäis Fälle, in denen Schutzsuchende zurückgewiesen wurden. Das Border Violence Monitoring Network dokumentierte wiederum Hinweise und Testimonies von gewalttätigen Pushbacks an Landgrenzen, etwa an der griechisch-türkischen Landgrenze oder an den Grenzen zwischen Kroatien und Bosnien und Herzegowina. Diese systematische Dokumentationsarbeit schuf alternative Datenbanken zum Geschehen an Europas Grenzen, die neue Recherche-Ansätze ermöglichten.
Als eine ähnliche Methodeninnovation erwiesen sich die Freedom of Information-Aktivitäten von Luisa Izuzquiza and Arne Semsrott. Diese hatten begonnen, vermehrt Dokumente aus der Agentur anzufordern, gestützt auf die Informationsfreiheits-Gesetzgebung der EU. So entstand langsam ein Archiv interner Dokumente der Agentur, vor allem verbreitete sich jedoch das Wissen um diese neuen Methoden und Möglichkeiten.
Hinzu kamen neue Ergebnisse aus der Forschung. Die Rechtswissenschaftlerin Melanie Fink konnte 2018 zeigen, dass auch eine externe juristische Überprüfung der Handlungen der Agentur durch nationale oder europäische Gerichte de facto unmöglich ist (Fink 2018). 2020 konnten meine Kollegin Lena Karamanidou und ich nachweisen, dass die neue, ausgebaute Agentur keinen wesentlichen Rechenschafts- und Transparenzpflichten unterlag. Die internen Mechanismen der Agentur, die die Einhaltung der Grundrechte bei Operationen der Agentur garantieren oder eine nachträgliche Überprüfung ermöglichen sollen, erwiesen sich im Wesentlichen als ineffektiv und folgenlos (Karamanidou und Kasparek 2020). In meiner Ethnographie der Agentur konnte ich zudem zeigen, dass dieses Konstrukt einer europäischen Agentur auf eine technokratische europäische Regierungskunst verweist, die von der Kommission seit den 2000er Jahren gezielt verfolgt wurde (Kasparek 2021).
Damit verdichteten sich ab 2017 die Hinweise, dass Frontex nationale Grenzschutzpraktiken, die im Widerspruch zu internationalem Flüchtlingsrecht, der Europäischen Grundrechtecharta und europäischem Recht standen, begünstigte oder unterstützte. Klar war auch, dass es hohe rechtliche und administrative Hürden gab, um die Agentur zur Rechenschaft zu ziehen.
Skandale
Mit dem Rücktritt von Leggeri hat sich erwiesen, dass die Kritik an der Agentur nach dem Sommer der Migration berechtigt gewesen war. Die massive Ausweitung der Kompetenzen und dem Budget der Agentur bei ausbleibender Kontrolle und Aufsicht beschleunigte eine Entwicklung, in der die Agentur und insbesondere ihr Exekutivdirektor anscheinend das Gefühl hatten, unantastbar zu sein und dass der Zweck – also die Unterbindung von Migration nach Europa – jedes Mittel – hier insbesondere gewalttätige Pushbacks – heilige. Dies zeigte sich auch daran, dass die Agentur allem Anschein nach begann, sich auch bei anderen Aktivitäten jenseits von Recht und Gesetz zu bewegen.
Die Schaffung eines toxic workplace environments in der Agentur wie oben beschrieben scheint dabei noch der kleinste Vorwurf zu sein. Leggeri hintertrieb auch gezielt die Einstellung von 40 so genannten Grundrechtsbeobachter_innen, wie es die Verordnung aus dem Jahr 2019 verlangte. Dabei ging er so frech vor, dass sogar die Kommission die Geduld mit ihm verlor, was in einen sehenswerten Briefwechsel mündete. Weiter drängt sich der Eindruck auf, dass die Führung der Agentur die Leiterin der Grundrechtsabteilung in der Agentur gezielt aus dem Amt gemobbt hat. Diese hatte mehrfach den Rückzug von Frontex aus Operationen gefordert, in denen es offensichtlich zu Grundrechtsverletzungen kam. Doch Leggeri wollte diesen Forderungen nicht nachkommen. Die Leiterin wurde daraufhin allem Anschein nach kaltgestellt, effektiv war ihr Posten viele Monate unbesetzt und wurde erst im Herbst 2020 mit einem Vertrauten des Exekutivdirektors besetzt.
Auch der Prozess der Schaffung der ständigen Reserve der Agentur, also der 10.000 Grenzschützer_innen bis 2027, wurde auf sagenhafte Art in den Sand gesetzt. Bewerber_innen wurde erst gesagt, dass sie eingestellt werden würden, am nächsten Tag wurde ihnen wieder per Email abgesagt. Als diese dann in Warschau ankamen, wurden sie in einer Kaserne des polnischen Grenzschutzes geparkt und vergessen. Und weil es versäumt wurde, ein Hygienekonzept zu erstellen, breitete sich der Coronavirus unter den neuen Rekrut_innen aus. Die Agentur hat es auch versäumt, Regelungen zu schaffen, die es Angehörigen der Reserve erlauben würde, Schusswaffen zu besitzen, zu tragen und auch im Transit mit sich zu führen. Weiter steht im Raum, dass die Agentur Millionen für eine dysfunktionale Software ausgegeben habe und die Hersteller nie in Regress dafür nahm.
Im Herbst 2020 kam es dann zu ersten Medienberichten, die diese Begebenheiten, vor allem aber die Frage nach der Beteiligung der Agentur an Pushbacks, thematisierten. Ob erst diese Berichte die Antikorruptionsbehörde OLAF auf den Plan riefen, ist nicht klar. Auf jeden Fall durchsuchte OLAF Anfang Dezember 2020 die Büros von Leggeri und seinem Büroleiter, beschlagnahmte umfangreich Dokumente, versiegelte die Räume und befragte Mitarbeiter_innen der Agentur. Damit begann die Untersuchung von OLAF, die zu dem über 200-seitigen Bericht führte, der letztendlich den Rücktritt von Leggeri erwirkte.
Bis dahin war es jedoch ein langer Weg. Der Verwaltungsrat der Agentur leitete eine schnelle interne Untersuchung der Vorwürfe ein, konnte jedoch einige Vorwürfe weder bestätigen noch entkräften. Scheinbar hatte die Agentur ihrem eigenen Verwaltungsrat nicht alle notwendigen Dokumente ausgehändigt. Auch die Untersuchung im LIBE-Kommittee des Europäischen Parlaments durch die Frontex Scrutiny Working Group resultierte in dem ambivalenten Ergebnis, dass eine direkte Beteiligung der Agentur an Pushbacks nicht bestätigt werden konnte, die Agentur aber definitiv von Pushbacks wisse und auch nichts dagegen unternehme. Weiter gab es diverse Untersuchungen durch die Europäische Ombudsfrau.
Leggeri behauptete die gesamte Zeit, dass die Vorwürfe ungerechtfertigt seien und behauptete dreist, dass es zum Beispiel in der Ägäis überhaupt nicht zu Pushbacks käme. Dies, obwohl sogar der UNHCR von vielen Hunderten Fällen pro Jahr ausgeht. Leggeri verweigerte sich allen Versuchen der Aufklärung und machte nur dort Zugeständnisse, wo es nicht mehr anders ging. Im April 2022 stellte OLAF dann endlich den besagten Bericht fertig und übergab ihn an den Verwaltungsrat der Agentur. Dort lag er mehrere Wochen, bis weitere Medienberichte durch eine clevere Kombination aus Freedom of Information-Anfragen auf eine interne Datenbank der Agentur mit aktivistischen Dokumentationen zeigen konnten, dass Frontex Pushbacks in der Ägäis nicht nur duldet und stillschweigend in Kauf nimmt, sondern dieses Wissen auch systematisch aus den eigenen Datenbanken tilgt. An diesem Punkt war der Druck endgültig zu hoch. Der Verwaltungsrat, der wenige Tage nach diesen wichtigen Enthüllungen tagte, beschloss, eine Disziplinarverfahren gegen Leggeri zu eröffnen. Diesem kam er durch seinen Rücktritt zuvor.
Gilt europäisches Recht an Europas Grenzen?
Anlässlich seines Rücktritts wandte sich Leggeri ein letztes Mal an seine Mitarbeiter_innen. In einem Schreiben lamentiert er, dass in den letzten zwei Jahren ein neues Narrativ über die Agentur etabliert worden sei. Er halte weiter daran fest, dass das Mandat aus der Verordnung im Jahr 2019 ihn beauftragt habe, den ersten uniformierten Dienst der EU zu schaffen, um die Mitgliedstaaten bei der Grenzverwaltung zu unterstützten. Das neue Narrativ sei nun aber, dass Frontex im Kern in eine Art Grundrechteagentur transformiert werden soll (“that Frontex’s core mandate should be transformed in practice into a sort of Fundamental Rights Body”), die beobachten solle, was die Mitgliedstaaten an der Außengrenze der EU täten. Dies sei jedoch nicht mit ihm zu vereinbaren, weswegen er gezwungen sei, zurückzutreten.
Spätestens diese offen zur Schau gestellte Missachtung für die Geltung der Grundrechte in der Europäischen Union hat Leggeri als Exeuktivdirektor einer europäischen Agentur untragbar gemacht. Denn es darf natürlich nicht sein, dass der Direktor einer europäischen Agentur Grundrechte als eine Zumutung empfindet und sich weigert, für diese einzustehen. Grundsätzlich verweist Leggeri jedoch tatsächlich auf eine Spannung, die das europäische Migrations- und Grenzregime von Beginn an gekennzeichnet hat. Mit der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Grenzpolitik und einer europäisierten Grenze durch die Schengener Verträge und vor allem durch den Vertrag von Amsterdam (1997) hatte die EU auch versucht, sich von einem Modell der nationalen, souveränen Gewalt an der Grenze zu lösen. Die Professionalisierung des border management auch durch Frontex, die Einführung vermeintlich wissensbasierter Methoden der Risikoanalyse, die Kodifizierung der Grenze durch den Schengener Grenzkodex, aber vor allem das Versprechen einer hochtechnologisierten Grenze, die schon weit jenseits der eigentlichen Grenzlinie durch vernetzte Datenbanken und Überwachungstechnologien wirksam werden sollte, war das europäische Angebot an die Mitgliedstaaten.
Im Sommer der Migration 2015 offenbarte sich jedoch die Unzulänglichkeit eines solchen europäisierten Vorgehens. Verschiedene Mitgliedstaaten, wie etwa Griechenland, Ungarn und Polen, kehrten zurück zu den alten Modi der souveränen Gewalt der nationalen Grenze. Dies beinhaltete auch die Vorstellung, der Staat habe die alleinige Hoheit, über den Zutritt zum nationalen Territorium zu entscheiden und diese notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen. Der langsame Scheitern des EU-Türkei-Deals, der 2016 den Sommer der Migration beendet hatte, die erzwungene Fluchtmigration an der belarus-polnischen Grenze, langsam steigende unautorisierte Grenzübertritte auf dem Balkan führten daher in den letzten Jahren zu einer schleichenden Normalisierung und Systematisierung dieser Gewalt in der Form der Pushbacks.
Fatal ist jedoch aktuell, dass sich diese alten Rationalitäten mit den neuen Überwachungstechnologien zu einer Maschine der systematischen und tagtäglichen Pushbacks verbunden haben. Die Kooperation der Agentur Frontex unter dem Exekutivdirektor Leggeri mit den nationalen Grenzschutzinstitutionen steht genau für diese Verbindung. Oftmals liefert Frontex nur die Informationen über sich in Bewegung befindende Boote oder Personengruppen, welche die Agentur durch ihre Überwachungskapazitäten gewinnt. Die dreckige und illegale Arbeit der Pushbacks überlässt die Agentur dann den Institutionen der Mitgliedstaaten wie etwa der griechischen Küstenwache oder sogar so dubiosen Einheiten wie der so genannten Libyschen Küstenwache, eine Miliz des libyschen Bürgerkriegs, die auf finanziellen Anreiz der EU hin auf Migrationskontrolle umgesattelt hat. Und wie wir in einem anderen Artikel gezeigt haben, lässt sich die Rückkehr zu alten Vorstellungen dessen, was effektiven Grenzschutz ausmacht, auch im Entstehungsprozess der 2019er Verordnung zeigen (Kasparek und Karamanidou 2022).
Ist es nun wirklich zu viel verlangt, dass eine europäische law enforcement agency verpflichtet sein soll, geltendes europäisches Recht an den Grenzen Europas auch durchzusetzen? Dies ist nur scheinbar eine rhetorische Frage, denn genau dies ist die eigentlich banale Anforderung, der Leggeri nicht mehr nachkommen wollte. Pushbacks, unverhältnismäßige Internierung von Schutzsuchenden, Gewalt gegen Fliehende sind gerade auch nach europäischem Recht nicht zulässig und oftmals sogar strafrechtlich zu verfolgen. Die Agentur weiß um diese tagtäglichen Verletzungen europäischen Rechts, aber sie unterstützt und deckt die Täter in einer vermeintlichen Geste europäischer Solidarität.
Dies bedeutet jedoch, dass die Krise der Rechtsstaatlichkeit in der EU einen dritten Schauplatz hat: die Grenzen Europas. Denn weder Frontex noch Kommission, die ja schon längst mit Vertragsverletzungsverfahren auf die Einhaltung europäischen Rechts hätte dringen können, scheinen sich zuständig zu fühlen, den europäischen Rechtsstaat auch an den Grenzen Europas zu verteidigen. Schon aus einer Perspektive liberaler Demokratie stellt diese Konstellation ein Problem dar.
Defund Frontex
In meinem Buch “Europa als Grenze. Eine Ethnographie der Grenzschutz-Agentur Frontex” (Kasparek 2021) zeichne ich auch die lange Ko-Entwicklungslinie zwischen dem europäischen Projekt und der europäischen Grenze nach. Nach meinem Dafürhalten liegt die grundsätzliche Misere der europäischen Migrationspolitik darin, dass die EU sich vor rund zwei Jahrzehnten darauf festgelegt hat, Migrationspolitik in erster Linie über die Technologie der Grenze zu gestalten und somit zu externalisieren. Doch Migrationspolitik ist immer auch Gesellschaftspolitik und hätte dementsprechend im Hinblick auf die Zukunft der europäischen Gesellschaften ausgehandelt werden müssen. Stattdessen wurde jedoch eine vermeintlich apolitische und technik-orientierte Agentur geschaffen, die sich mittlerweile verselbständigt hat und eine Gefahr nicht nur für den Rechtsstaat in Europa, sondern auch für den demokratischen Charakter des europäischen Projekts darstellt.
Daher ist eine grundlegende Reform der Agentur unabdingbar. Kern der Reform muss ein Entzug von Kompetenzen und Budget sein, beispielsweise um damit endlich einen europäischen zivilen Seenotrettungsmechanismus zu schaffen und zu finanzieren. Und auch die Aufgabe der Erstaufnahme und Registrierung von Schutzsuchenden an Europas Grenzen muss nicht durch Grenzschutzbeamte erfolgen. Zudem muss die Agentur gezwungen werden, ihr internes Modell der Wissensproduktion, die so genannte Risikoanalyse, offen zu legen und unabhängig überprüfen zu lassen. Denn wie ich zeigen konnte, ist ihr Modell von anti-migrantischen Vorannahmen durchsetzt. Wichtigster Punkt der Reform muss jedoch tatsächlich sein, dass die Agentur sich den in der EU geltenden Grundrechten und Gesetzen unterwerfen und diese auch pro-aktiv an den Grenzen Europas durchsetzen muss. So könnte die Gewalt an den Grenzen Europas, der unerklärte Krieg gegen Schutzsuchende, endlich beendet werden und die fatale europäische Verschränkung zwischen Migrationspolitik und Grenze aufgehoben werden.
Der Rücktritt Leggeris ist sicherlich nicht geeignet, diese strukturellen Probleme der europäischen Grenz- und Migrationspolitik, ja tatsächlich des europäischen Projekts als Ganzem, zu lösen. Vielmehr bedarf es jetzt einer grundlegenden Debatte, auf welche Art sich Europa mit dem Rest der Welt in Beziehung setzen will. Doch eine solche Debatte wird nicht von alleine kommen, schon jetzt ist klar, dass etwa die Kommission sehr schnell damit ist, alle Schuld alleinig in der Person Leggeris zu suchen und damit strukturelle Debatten um die Zukunft der europäischen Grenze im Keim zu ersticken. Wer jedoch der Meinung ist, dass eine solche Debatte notwendig ist (und über die Schweizer Staatsbürgerschaft verfügt), sollte am 15. Mai mit NEIN stimmen.