Eine Momentaufnahme von Marc Speer
Keleti Bahnhof, einer der beiden großen Budapester Bahnhöfe, von dem aus die Züge Richtung Westen fahren, Ende August 2015: In einer schwülen Sommernacht liegen in den unterirdischen Zugängen tausende Menschen. Alte, Kranke, Behinderte und vor allem Kinder. Viele haben nicht einmal mehr eine Decke, auf die sich sich legen könnten. Alle sind sie erst vor Kurzem über die Balkan-Route gekommen: Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn. Empfangen wurden sie hier nicht besonders freundlich, sondern in der Grenzregion erst einmal in eine überfüllte Zelle oder auch einfach eine umfunktioniere Lagerhalle gesteckt. Angeblich unbedingt nötig. Zur Registrierung, d.h. vor allem zur Abgabe der Fingerabdrücke. Welcome to Hungary. Jeder hat eine ähnliche Geschichte davon zu erzählen, die mit Fotos auf Smartphones belegt werden: Da ist etwa die syrische Kurdin, die kürzlich ihren Mann verloren hat und zwei Tage in einer Zelle war, in der kaum genug Platz war, dass sich alle gleichzeitig hinlegen. Das sie ein kleines Baby dabei hat, egal. Ab in die Zelle. Oder der Herzkranke, der in Haft statt blutverdünnender Mittel von einer sogenannten Ärztin Magnesium bekommen hat. Hilft bestimmt.
Nun sitzen sie hier also und warten. Darauf dass sich irgendeine Chance bietet, weiter zu kommen oder ihnen auch nur jemand hilft: Außer den Ehrenamtlichen, die fantastische Arbeit leisten und die Leute mit privaten Spenden versorgen, ist einfach niemand da: Kein ungarisches THW, kein Rotes Kreuz und auch sonst keine der „professionellen“ Organisationen, die auf solche Situationen spezialisiert sind. Sie sind einfach nicht da. Es steht hier nicht einmal ein Krankenwagen bereit. Ich habe von einer deutschen Medizinstudentin gehört, die in Budapest studiert und seit Tagen am Bahnhof medizinische Versorgung leistet. Nun kommt auch noch ihre Mutter – ebenfalls Ärztin – aus Deutschland angereist, um ebenfalls zu helfen. Im Zentrum einer europäischen Hauptstadt verhindern Ehrenamtliche gerade noch so, dass die Ersten sterben. Kann es da noch jemanden wundern, dass niemand in Ungarn bleiben möchte, so wie sich das die Regierungen in Wien und Berlin wohl wünschen würden? Ihre Abneigung gegenüber Flüchtlingen stellte die Regierung erst kürzlich sogar ganz öffentlich und landesweit auf Plakaten zur Schau: „Wenn du nach Ungarn kommst, darfst du den Ungarn keine Jobs wegnehmen“ stand da etwa zu lesen. Welcome to Hungary.
Bereits seit mehreren Monaten waren Geflüchtete vor allem in der Nähe der Bahnhöfe ein alltägliches Bild in Budapest. Allerdings sorgten vor allem die Schleuser für einen steten „Abfluss“ von Leuten. Seit der Tragödie in Österreich und der daraus resultierenden faktischen Wiedereinführung statischer Grenzkontrollen an der ungarisch-österreichischen Grenze ist es damit vorbei. In solch einer Situation geht kein Schleuser seinem Geschäft nach. Jetzt sitzen sie hier also fest, denn in die Züge wurden sie auch nicht gelassen und zeitweise nicht einmal mehr in den Bahnhof. Das verhindern ungarische Polizisten, die hier wohl nicht stehen würden, würden Österreich und Deutschland nicht hinter den Kulissen Druck auf Ungarn ausüben.
Heute hat sich die Polizei jedoch zurückgezogen, woraufhin viele Geflüchtete sich Zugtickets gekauft haben und die Reise nach Deutschland angetreten sind. Weit sind sie jedoch nicht gekommen. Österreich kontrolliert nicht nur an den Autobahnen, sondern hält auch diese Züge an.
Erstaunlicherweise setzen die Menschen dennoch große Hoffnungen auf Deutschland: „When will Merkel help us?“ ist die Frage, die man als Deutscher im humanitären Katastrophengebiet am Bahnhof Keleti immer wieder gestellt bekommt. Und tatsächlich könnte sich Angela Merkel – 25 Jahre nach den Sonderzügen der Deutschen Bahn, welche die Prager Botschaftsflüchtlinge nach Westdeutschland brachten (die Budapester wurden sogar ausgeflogen) – durch eine simple Wiederholung dieser Maßnahme ihren Platz in den Geschichtsbüchern sichern.