GEAS-Watch #3

von Marc Speer

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Im ersten Teil dieser Artikelserie zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) wurde die erste und die zweite Phase des GEAS näher beleuchtet.1 Der zweite Teil setzte sich mit dem Beginn der dritten Phase nach dem Sommer der Migration (2015) bis zum vorläufigen Scheitern der Verhandlungen im Jahr 2018 auseinander.2 Der folgende dritte Teil beschreibt und analysiert die neuen Vorschläge, welche die Kommission im Jahr 2020 im Rahmen ihres neuen Migrations- und Asylpakets vorlegte.

Kommissionsvorschläge von 2020

Am 23.09.2020 legte die Kommission ein neues Migrations- und Asylpaket vor. Damit wollte sie vor allem einen Neustart der festgefahrenen Verhandlungen über die dritte Phase des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) einleiten. Konkret strebte die Kommission einerseits an, auf die bereits erzielten Fortschritte bei den Verhandlungen im Rat beziehungsweise zwischen Rat und Parlament im Hinblick auf die Qualifikationsverordnung, die Aufnahmerichtlinie, die Resettlement-Verordnung und die Verordnung zur Schaffung einer Europäischen Asylagentur aufzubauen und diese schnell zu einem Abschluss zu bringen. Andererseits unterbreitete sie fünf neue Vorschläge für eine Screening-Verordnung, eine geänderte Asylverfahrensverordnung, eine Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung, eine Verordnung zur Bewältigung von Krisensituationen und Fällen höherer Gewalt und eine geänderte Eurodac-Verordnung.3 Erstere waren bereits Gegenstand des zweiten Teils der Artikelserie, Letztere werden im Folgenden beschrieben.

Vorschlag für eine Screening-Verordnung

Gemäß dem Kommissionsvorschlag sollten die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, alle Drittstaatsangehörigen, die unbefugt eine Außengrenze übertreten haben oder bei den Grenzübergangsstellen einen Antrag auf internationalen Schutz stellen oder später auf dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufgegriffen werden, zunächst einem Screening zu unterziehen. In den ersten beiden Fällen sollte das Screening an oder in der Nähe der Außengrenze in dafür geeigneten Einrichtungen unter der Fiktion der Nichteinreise durchgeführt werden. Es sollte eine medizinische Erstuntersuchung, eine Prüfung der Vulnerabilität, eine Identitäts- und Sicherheitsüberprüfung mittels europäischer Datenbanken sowie die Erfassung von biometrischen Daten zur Registrierung in der Eurodac-Datenbank umfassen. Die Mitgliedstaaten sollten dabei von Frontex und der Europäischen Asylagentur unterstützt werden. Wird ein Asylantrag gestellt, sollte dieser an die zuständige Asylbehörde weitergeleitet werden. Bereits im Zuge des Screenings sollten offensichtliche Faktoren für die Zuweisung zu einem beschleunigten Asylverfahren beziehungsweise einem Asylgrenzverfahren ermittelt und in einem Auswertungsformular dokumentiert werden. Wird kein Asylantrag gestellt, sollte eine umgehende Zuweisung in ein Grenzrückkehrverfahren erfolgen. Bei Durchführung an einer Außengrenze hätte das Screening-Verfahren in der Regel maximal fünf Tage dauern sollen, bei im Inland aufgegriffenen Personen maximal drei Tage. In dem Entwurf der Kommission waren keine Rechtsmittel vorgesehen, sondern lediglich die Einführung eines »unabhängigen Überwachungsmechanismus«, der von den Mitgliedstaaten etabliert werden sollte.4

Geänderter Vorschlag für eine Asylverfahrensverordnung

Der im Jahr 2016 von der Kommission vorgelegte Vorschlag für eine Asylverfahrensverordnung war innerhalb des Rates vor allem wegen der Asylgrenzverfahren umstritten. Es herrschte nämlich Uneinigkeit darüber, ob diese in bestimmten Konstellationen verpflichtend durchzuführen sind. Darüber hinaus war das Parlament – im Gegensatz zum Rat – der Ansicht, dass Minderjährige in keinem Fall einem Grenzverfahren zugeführt werden dürfen. Zudem vertraten Rat und Parlament unterschiedliche Standpunkte zur Frage, ob Rechtsbehelfe in zweiter oder höherer Instanz automatisch aufschiebende Wirkung haben sollen. Weiterhin konnte sich der Rat auch nicht auf einheitliche Fristen für die Einlegung von Rechtsbehelfen einigen. Hinsichtlich der Durchführung von Asylgrenzverfahren sah der neue Kommissionsvorschlag aus dem Jahr 2020 vor, dass diese in der Regel in drei Konstellationen verpflichtend in dafür geeigneten Einrichtungen an oder in der Nähe der Außengrenze unter der Fiktion der Nichteinreise durchgeführt werden müssen: Erstens, wenn der/die Antragsteller:in die Behörden getäuscht hat, zweitens, wenn er/sie die nationale Sicherheit beziehungsweise die öffentliche Ordnung gefährdet und drittens, wenn er/sie aus einem Drittstaat stammt, für den die EU-weite Anerkennungsquote für internationalen Schutz unter 20 Prozent liegt. Bei Minderjährigen unter zwölf Jahren und ihren Angehörigen wäre die Durchführung eines Asylgrenzverfahrens nur bei Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung zulässig gewesen. Eine Ausnahme von der Verpflichtung, ein Asylgrenzverfahren durchzuführen, hätte zudem dann gelten sollen, wenn es unwahrscheinlich ist, dass der Drittstaat die Person überhaupt zurücknehmen würde. In vielen Fällen hätten die Mitgliedstaaten weiterhin die Möglichkeit erhalten, Asylgrenzverfahren durchzuführen, ohne jedoch dazu verpflichtet zu sein. Die Kommission schlug eine Höchstdauer von zwölf Wochen für die Durchführung des Asylgrenzverfahrens vor, beginnend ab dem Zeitpunkt der erstmaligen Registrierung des Antrags. Spätestens nach Ablauf dieser Frist hätte die Einreise in das Hoheitsgebiet ermöglicht werden müssen. Es sei denn, es schließt sich ein Grenzrückkehrverfahren an, welches ebenfalls nicht länger als zwölf Wochen hätte dauern dürften und das bei der Ablehnung eines Asylantrags im Grenzverfahren durchgeführt werden hätte müssen. Anders als im Kommissionsvorschlag von 2016 vorgesehen, enthielt der neue Vorschlag keine konkreten Fristen für die Einlegung von Rechtsbehelfen in erster Instanz, sondern lediglich Mindest- und Höchstfristen. Im Asylgrenzverfahren wäre zudem die Möglichkeit eines weiteren Rechtsbehelfs gegen eine erste Rechtsbehelfsentscheidung ausgeschlossen worden. Neben der Einführung von Grenzrückkehrverfahren sah der Kommissionsvorschlag zwei weitere Punkte vor, die auf eine engere Verzahnung von Asyl- und Rückkehrverfahren abzielten: Erstens sollte die Rückkehrentscheidung gemeinsam beziehungsweise zeitgleich mit der negativen Asylentscheidung ergehen und zweitens sollten die entsprechenden Rechtsschutzverfahren zusammengelegt werden.5

Vorschlag für eine Asyl- und Migrationsmanagment-Verordnung

Im Zuge des neuen Migrations- und Asylpakets zog die Kommission ihren Vorschlag für eine Dublin-IV-Verordnung zurück und unterbreitete stattdessen einen Vorschlag für eine Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung. Dabei hielt die Kommission im Grundsatz an der bisherigen Zuständigkeitsbestimmung gemäß der Dublin-Regeln fest, ergänzte diese jedoch um einen neuen Solidaritätsmechanismus. Demnach hätten die anderen Mitgliedstaaten im Rahmen der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung Solidaritätsbeiträge zu leisten gehabt, wenn ein Mitgliedstaat unter Migrationsdruck steht beziehungsweise eine entsprechende Gefahr besteht oder im Zusammenhang mit der Ausschiffung nach Rettungseinsätzen. Die Solidaritätsbeiträge hätten weitestgehend flexibel in Form der Übernahme von Antragsteller:innen und anerkannten Schutzberechtigten, durch Maßnahmen zum Kapazitätsausbau oder durch Rückkehrpatenschaften geleistet werden können. Für Letztere sah der Vorschlag vor, dass ein Mitgliedstaat, der eine Rückkehrpatenschaft übernommen hat, die entsprechende Person auf sein Hoheitsgebiet übernimmt, wenn es ihm nicht gelingt, diese innerhalb von acht Monaten aus dem Gebiet des betroffenen Mitgliedstaats rückzuführen. Für die konkrete Umsetzung des Solidaritätsmechanismus war ein äußerst komplexes Zusammenwirken der betroffenen und der solidaritätsleistenden Mitgliedstaaten vorgesehen, dass im Folgenden noch thematisiert wird. Die Kommission hätte dabei die Rolle der Moderation übernehmen sollen und die Mitgliedstaaten notfalls zur Erbringung von Solidaritätsbeiträgen verpflichten können. Die bereits 2016 vorgeschlagenen Modifikationen der Dublin-Verordnung (Dublin-IV) wurden weitgehend in den nun vorgelegten Vorschlag für eine Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung übernommen. Konkret sahen die Änderungen unter anderem eine Erweiterung der Familiendefinition, den Entzug beziehungsweise die Beschränkung der materiellen Unterstützung, falls sich ein/eine Antragsteller:in nicht im zuständigen Mitgliedstaat aufhält, eine Verkürzung der Fristen im Aufnahmeverfahren, die Einführung von Wiederaufnahmemitteilungen anstelle von Wiederaufnahmeersuchen, eine weitreichende Beschränkung des Rechtsschutzes und die Einbeziehung von anerkannten Geflüchteten in den Geltungsbereich vor.6 Auch diese Aspekte werden im Folgenden noch näher beleuchtet.

Vorschlag für eine Krisenverordnung

In dem Vorschlag wird zwischen Krisensituationen und Fällen höherer Gewalt unterschieden. Ersteres bezieht sich auf einen Massenzustrom irregulärer Migrant:innen in einen Mitgliedstaat, entweder durch selbst organisierte Einreisen oder im Anschluss an Such- und Rettungseinsätze, der das Funktionieren des Asyl-, Aufnahme- oder Rückkehrsystems dieses Staates gefährdet hätte. Letzteres erfasst Situationen wie beispielsweise die Corona-Pandemie. Wäre ein Mitgliedstaat von einem Massenzustrom betroffen gewesen, hätte er der Kommission einen begründeten Antrag vorlegen müssen, über den anschließend entschieden worden wäre. Wäre ein Massenzustrom im oben beschriebenen Sinne festgestellt worden, hätte dies für einen befristeten Zeitraum eine Reihe von möglichen Konsequenzen nach sich gezogen. Insbesondere sind hier die Ausweitung des Solidaritätsmechanismus und die Verkürzung der hier vorgesehenen Fristen zu nennen (ausführlich hierzu im Folgenden). Außerdem wäre die Maximalfrist für die Durchführung des Screening, für die Registrierung von Asylanträgen und für die Durchführung von Grenzverfahren verlängert worden. Zudem hätte der betroffene Mitgliedstaat die Möglichkeit erhalten, Asylgrenzverfahren auch dann durchzuführen, wenn die EU-weite Anerkennungsquote für den Herkunftsstaat unter 75 Prozent liegt. Von besonderer Bedeutung ist darüber hinaus, dass die Kommission den betroffenen Mitgliedstaat (anstelle der bis dato notwendigen Aktivierung der Massenzustromrichtlinie durch den Rat) hätte ermächtigen können, Personen »unmittelbaren Schutz« zu gewähren, der im Folgenden noch thematisiert wird. In Fällen höherer Gewalt, die der betreffende Mitgliedstaat der Kommission beziehungsweise den anderen Mitgliedstaaten lediglich hätte anzeigen müssen, wären die Sonderregelungen für diesen Staat andere gewesen: Die Fristen zur Asylantragsregistrierung, zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und zur Durchführung von Überstellungen wären verlängert worden. Zudem wäre ein von höherer Gewalt betroffener Mitgliedstaat von der Verpflichtung befreit worden, Antragsteller:innen, für die er gemäß der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung eigentlich zuständig wäre, zu übernehmen und hätte die Erfüllung seiner im Rahmen des Solidaritätsmechanismus vorgesehenen Verpflichtungen für bis zu sechs Monate aussetzen dürfen.7

Geänderter Vorschlag für eine Eurodac-Verordnung

Hinsichtlich des Vorschlags der Kommission von 2016 zur Neufassung der Eurodac-Verordnung hatten das Parlament und der Rat bereits einen politischen Konsens erzielt. Dieser zielte auf die Einbeziehung neuer Personengruppen, die Senkung des Mindestalters für die Abnahme von Fingerabdrücken, die Erfassung zusätzlicher Identitätsinformationen und die Verlängerung der Speicherdauer ab. Der neue Vorschlag hielt hieran fest, sollte aber darüber hinaus sicherstellen, dass die Kohärenz der Eurodac-Verordnung mit den neu vorgeschlagenen Verordnungen gewährleistet ist, beispielsweise im Hinblick auf die Übernahme von Antragsteller:innen im Rahmen der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung. Darüber hinaus sah der Vorschlag vor, Eurodac in eine Datenbank zur Zählung von Asylantragsteller:innen (nicht wie bisher Anträgen) innerhalb der EU umzuwandeln und eine Vernetzung mit anderen Datenbanken zur Erstellung von Statistiken zu ermöglichen. Darüber hinaus schlug die Kommission die Einführung einer neuen Kategorie für aus Seenot gerettete Personen vor. Zudem sollten in Eurodac künftig auch Hinweise zu abgelehnten Asylanträgen, gewährter Unterstützung für die freiwillige Rückkehr, erteilten Visa sowie zu einer sich aus dem Screening ergebenden möglichen Gefahr für die innere Sicherheit gespeichert werden.8

Analyse und Bewertung

Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass das neue Migrations- und Asylpaket, das die Kommission als »fresh start« anpries, in der Realität in den bekannten Logiken und Dogmen verhaftet blieb. Das prägnanteste Beispiel dafür ist die in der Dublin-III-Verordnung verankerte Rangfolge der Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, die nahezu unverändert in die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung übernommen wurde.9 Wie wenig ambitioniert die neuen Vorschläge waren, wird auch daran ersichtlich, dass sie – anders als in den vorangegangenen GEAS-Phasen – nicht in ein vom Europäischen Rat (also dem Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU) verabschiedetes Fünfjahresprogramm zu den strategischen Leitlinien für die kommende Legislaturperiode eingebettet waren. Stattdessen wurden sie von der Kommission lediglich im Rahmen einer Mitteilung präsentiert.10 Neu – zumindest vermeintlich – waren die folgenden Aspekte: Die (verpflichtend durchzuführenden) Screening- und Grenzverfahren, die Verschärfung der Regeln zur Durchsetzung von Dublin-Überstellungen, die Einführung eines flexiblen Solidaritätsmechanismus (anstelle eines Korrekturmechanismus wie in den Vorschlägen von 2016 vorgesehen) sowie die Einführung eines »unmittelbaren Schutzes« (anstelle des vorübergehenden Schutzes gemäß der Massenzustromrichtlinie).

Screening- und Grenzverfahren

Tatsächlich war der Vorschlag zur Einführung eines Screening-Verfahrens weniger neu, als es zunächst erscheinen mag: Zum einen kann er als Adaption der seit 2015 im Rahmen des Hotspot-Ansatzes praktizierten Praxis verstanden werden. Zum anderen beinhaltete der Vorschlag viele Aspekte, die die Grenzschutzbehörden ohnehin im Rahmen bereits bestehender Verpflichtungen erfüllen sollen, die sich insbesondere aus dem Schengener Grenzkodex, der Eurodac-Verordnung und der Aufnahmerichtlinie ableiten.11 Der Vorschlag zielte demnach vor allem darauf ab, sicherzustellen, dass die Fingerabdrücke von den Außengrenzenstaaten tatsächlich registriert und in die Eurodac-Datenbank eingespeist werden.12 Der Vorschlag der deutschen Regierung, eine obligatorische Vorentscheidung von Asylanträgen bereits an der Grenze einzuführen, wurde im Rahmen des Vorschlags für eine Screening-Verordnung nicht aufgegriffen. Vielmehr sah dieser nur vor, dass entsprechende Hinweise für die Durchführung von Asylverfahren in einem Auswertungsformular dokumentiert werden. Auch die Entscheidung, ob eine Person im Rahmen des Solidaritätsmechanismus umverteilt wird, sollte an anderer Stelle getroffen werden.13 Kritisch anzumerken ist, dass das vorgesehene Screening in der Praxis wohl kaum allein der Informationsbeschaffung gedient hätte, sondern de facto bereits im Zuge dessen über den weiteren Verlauf des Asylverfahrens und insbesondere über die Einleitung eines Grenzverfahrens entschieden worden wäre.14 Problematisch ist zudem, dass der Vorschlag in bestimmten Fällen eine Inhaftierung während des Screenings explizit vorsah, jedoch auch in allen anderen Fällen sichergestellt werden sollte, dass die betroffenen Personen sich während des Screenings nicht auf dem Hoheitsgebiet aufhalten, sondern in einer Situation der fiktiven Nichteinreise verharren.15 Wie dies ohne Freiheitsentzug gelingen kann, blieb in dem Vorschlag ungeklärt. Offensichtlich hat die Kommission dies bewusst vage gehalten, damit die Garantien und Rechtsmittel, die mit einer Inhaftierung zwingend einhergehen, nicht zur Anwendung kommen müssen.16 Auf der selben wackligen Basis sollten auch die Asylgrenzverfahren und die Grenzrückkehrverfahren durchgeführt werden.17 Dabei ist die Frage, ob eine Inhaftierung im rechtlichen Sinne vorliegt, alles andere als leicht zu beantworten. Dies wird etwa daran deutlich, dass der EGMR und der EuGH in zwei Entscheidungen zu den ungarischen Transitzonen unterschiedliche Auffassungen vertreten haben. Im Gegensatz zum EGMR stellte der EuGH fest, dass die Beschränkung der Bewegungsfreiheit auch dann als Haft zu werten ist, wenn die Einrichtung zwar verlassen werden kann, dies jedoch zur Beendigung des Asylverfahrens führen würde.18 Die verpflichtende Durchführung von Grenzverfahren liegt vor allem im Interesse jener Staaten, die sich nicht an der Außengrenze befinden. Diese werfen den Außengrenzenstaaten schon lange vor, (abgelehnte) Asylsuchende weitgehend ungehindert weiterreisen zu lassen. Bezeichnenderweise ging der Vorschlag, Grenzverfahren (ebenso wie Screening-Verfahren) unter der Fiktion der Nicht-Einreise durchzuführen, von der deutschen Regierung aus.19 Insgesamt betrachtet verfolgten die vorgeschlagenen Screening- und Grenzverfahren vor allem das Ziel, eine weitaus engere Verzahnung der Kontrollen an den Außengrenzen sowie der Asyl- und Rückkehrverfahren zu etablieren, als dies bis dato der Fall war.20

Durchsetzung von Dublin-Überstellungen

In wesentlichen Punkten blieben die bisherigen Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats im Kommissionsvorschlag für eine Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung unverändert, auch wenn die Kommission das vergiftete Wort »Dublin« tunlichst vermeiden wollte. Das in der Praxis bedeutsamste und umstrittenste Kriterium der Ersteinreise blieb erhalten. Ergänzend wurde lediglich ein erweiterter Familienbegriff für die Zusammenführung von Geschwistern sowie eine Zuständigkeit, die auf dem Abschluss einer Ausbildung oder eines Studiums basiert, vorgeschlagen.21 Gravierendere Auswirkungen hätten die vorgeschlagene stärkere Sanktionierung von unerlaubter Sekundärmigration und verschärfte Überstellungsregelungen gehabt. Im Hinblick auf Ersteres war vorsehen, dass die Sozialleistungen der Betroffenen vom Zeitpunkt der Mitteilung der Überstellungsentscheidung bis zum (eventuellen) Übergang der Zuständigkeit drastisch gekürzt werden.22 In Bezug auf Letzteres sollten die Fristen in Aufnahmeverfahren, bei denen im ersuchten Mitgliedstaat noch kein Asylantrag gestellt wurde, verkürzt werden und das Verfahren für Wiederaufnahmen, bei denen im ersuchten Mitgliedstaat bereits ein Asylantrag gestellt wurde, sollte erheblich vereinfacht werden. Zudem sollte die Anwendung der Zuständigkeitskriterien auch auf bereits anerkannte Geflüchtete ausgeweitet werden. Rechtsbehelfe gegen Überstellungsentscheidungen sollten außerdem auf die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung beziehungsweise die fehlerhafte Anwendung der Familienkriterien beschränkt werden. Weiterhin sollte bei Untertauchen die bisher geltende 18-Monatsfrist für die Durchführung der Überstellung bis zum Wiederauftauchen unterbrochen werden. Darüber hinaus sollte die bisher geltende Garantie, dass überstellte Personen ein Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens im zuständigen Mitgliedstaat haben, ersatzlos gestrichen werden.23

Flexibler Solidaritätsmechanismus

Der vorgeschlagene Solidaritätsmechanismus sollte in drei Situationen greifen: Erstens im Zusammenhang mit Ausschiffungen nach Such- und Rettungseinsätzen, zweitens bei Migrationsdruck und drittens in Krisensituationen. Für den ersten Fall war vorgesehen, dass die Kommission in ihrem jährlichen Migrationsmanagement-Bericht feststellt, ob ein Mitgliedstaat mit wiederkehrenden Ankünften nach Such- und Rettungseinsätzen konfrontiert ist, und den Bedarf an Umsiedlungen sowie anderen Solidaritätsbeiträgen (Kapazitätsausbau, operative Unterstützung oder Zusammenarbeit mit Drittstaaten) ermittelt. Sind die diesbezüglichen Angebote der anderen Mitgliedstaaten nicht ausreichend, hätte die Kommission einen Durchführungsakt erlassen können, in dem die Umsiedlungsziele und die anderen angebotenen Solidaritätsbeiträge für jeden Mitgliedstaat einzeln aufgeführt werden. Falls ein Mitgliedstaat mit den ihm zugerechneten Umsiedlungen nicht einverstanden gewesen wäre, hätte er andere Solidaritätsbeiträge anbieten können. Wenn die angebotenen Umsiedlungsplätze jedoch 30 Prozent unter dem von der Kommission ermittelten Bedarf gelegen hätten, wäre jeder Mitgliedstaat verpflichtet gewesen, mindestens 50 Prozent seines Kontingents zu erfüllen. Dies wäre dann allerdings auch über Rückkehrpartnerschaften möglich gewesen. Von der Umverteilung ausgeschlossen wären Asylantragsteller:innen gewesen, die einem Asylgrenzverfahren unterliegen. Rückkehrpartnerschaften wiederum wären für sich irregulär im betroffenen Mitgliedstaat aufhältige Drittstaatsangehörige in Frage gekommen. Für den zweiten Fall, Migrationsdruck in einem Mitgliedstaat, dessen Vorliegen von der Kommission beschlossen worden wäre, hätten identische Regeln gegolten, jedoch mit der Ergänzung, dass auch Personen, denen bereits ein Schutzstatus gewährt wurde, für eine Umsiedlung in Betracht gekommen wären. Im dritten Fall, wenn ein Mitgliedstaat mit einer Krise gemäß der Krisenverordnung konfrontiert ist, wären auch Personen, die einem Asylgrenzverfahren unterliegen, für eine Umsiedlung in Betracht gekommen. Zudem wären die Fristen für die Umsetzung der Umsiedlung verkürzt worden. Die unterstützenden Mitgliedstaaten hätten außerdem nur zwischen Umsiedlung und Rückkehrpartnerschaft wählen können. Bei Letzterem hätten sie die betreffende Person gegebenenfalls bereits nach vier Monaten übernehmen müssen. Höchst problematisch wäre gewesen, dass die unterstützenden Mitgliedstaaten ihre Verpflichtungen im Rahmen des Solidaritätsmechanismus für bis zu sechs Monate hätten aussetzen können, wenn sie eine Situation höherer Gewalt mitgeteilt hätten, was von der Kommission nicht weiter geprüft worden wäre. Zusammenfassend lässt sich dennoch festhalten, dass die Kommission bei der Umsetzung des höchst bürokratischen Solidaritätsmechanismus einen weitreichenden Handlungsspielraum gehabt hätte, wobei die Interessen der betroffenen Geflüchteten im Hinblick auf den Aufnahmestaat kaum Beachtung gefunden hätten.24 Anders wäre es mit den Interessen der unterstützenden Staaten gewesen, von denen sich viele vehement gegen eine verpflichtende Aufnahme von Geflüchteten, so wie sie im Kommissionsvorschlag von 2016 vorgesehen war, gewehrt hatten. In Reaktion darauf schlug die Kommission nun »flexible Solidaritätsbeiträge« vor, aus denen die Mitgliedstaaten hätten auswählen dürfen.25

Einführung von unmittelbarem Schutz

Die Einführung von Sonderregelungen in Krisensituationen oder bei höherer Gewalt geht auf die Forderung mehrerer Mitgliedstaaten zurück, die vor der Veröffentlichung des neuen Migrations- und Asylpakets gegenüber der Kommission gefordert hatten, dass zwischen »normalen« und »besonderen« Situationen unterschieden werden müsse.26 Neben den weiter oben bereits ausgeführten Konsequenzen für die Mitgliedstaaten in derartigen Situationen hätte insbesondere die von der Kommission vorgeschlagene Einführung eines »unmittelbaren Schutzes« weitreichende Konsequenzen gehabt: Im Gegensatz zum vorübergehenden Schutz gemäß der Massenzustromrichtlinie wäre die Kommission – und nicht der Rat – zuständig gewesen, über dessen Aktivierung zu entscheiden. Voraussetzung dafür wäre ein Massenzustrom von Personen gewesen, die irregulär eingereist sind oder im Zuge von Such- und Rettungsmaßnahmen ausgeschifft wurden und in ihrem Herkunftsland oder ihrer Herkunftsregion einem außergewöhnlich hohen Risiko ausgesetzt sind, Opfer bewaffneter Konflikte oder willkürlicher Gewalt zu werden. Dabei hätte deren Anzahl unverhältnismäßig hoch im Hinblick auf die Bevölkerungszahl und das Bruttoinlandsprodukt des betroffenen Staates sein müssen. Zudem hätte die Gefahr bestehen müssen, dass das Asyl-, Aufnahme- oder Rückführungssystem des Mitgliedstaats nicht mehr funktionsfähig ist. In rechtlicher Hinsicht wären Personen, die »unmittelbaren Schutz« erhalten, mit subsidiär schutzberechtigten Personen gleichgestellt worden und hätten somit mehr Rechte erhalten als es die Massenzustromrichtlinie vorsieht. Die Kommission hätte auch die Befugnis gehabt, über die Dauer des »unmittelbaren Schutzes« zu entscheiden. Dieser hätte jedoch maximal zwölf Monate dauern dürfen; eine weitere Verlängerung wäre nicht vorgesehen gewesen. Spätestens nach einem Jahr hätten die betroffenen Personen somit ein reguläres Asylverfahren durchlaufen müssen.27

Ausblick

Der kommende vierte Teil der Artikelserie wird sich mit den Entwicklungen und Verhandlungen befassen, die auf die beschriebenen Kommissionsvorschläge bis zur Verabschiedung der GEAS-Reform im Jahr 2024 folgten. Der fünfte Teil wird deren Inhalt beschreiben und bewerten.

1 Speer, Marc (2025a): Teil Eins der Serie von GEAS-Watch. Ursprünge des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS).

2 Speer, Marc (2025b): Teil Zwei der Serie von GEAS-Watch. Der Sommer der Migration und die Vorschläge der Kommission.

3 COM(2020) 609 final.

4 COM(2020) 612 final.

5 COM(2020) 611 final.

6 COM(2020) 610 final.

7 COM(2020) 613 final.

8 COM(2020) 614 final.

9 De Bruycker, Philippe (2024): Genealogy of and futurology on the pact on migration and asylum.

10 De Bruycker, Philippe (2020): The New Pact on Migration and Asylum: What it is not and what it could have been.

11 EU-Parlament (2021): The European Commission’s legislative proposals in the New Pact on Migration and Asylum; S. 52 ff.

12 De Bruycker, Philippe (2024): Genealogy of and futurology on the pact on migration and asylum.

13 Thym, Daniel (2020): European Realpolitik. Legislative Uncertainties and Operational Pitfalls of the ‘New’ Pact on Migration and Asylum.

14 Jakulevičienė, Lyra (2020): Re-decoration of existing practices? Proposed screening procedures at the EU external borders.

15 Cornelisse, Galina (2021): The Pact and Detention: An Empty Promise of ‘certainty, clarity and decent conditions’.

16 EU-Parlament (2021): The European Commission’s legislative proposals in the New Pact on Migration and Asylum; S. 60.

17 Vedsted-Hansen, Jens (2020): Border Procedure: Efficient Examination or Restricted Access to Protection?

18 Cornelisse, Galina (2021): The Pact and Detention: An Empty Promise of ‘certainty, clarity and decent conditions’.

19 Thym, Daniel (2020): European Realpolitik. Legislative Uncertainties and Operational Pitfalls of the ‘New’ Pact on Migration and Asylum.

20 Vedsted-Hansen, Jens (2020): Border Procedure: Efficient Examination or Restricted Access to Protection?

21Thym, Daniel (2020): European Realpolitik. Legislative Uncertainties and Operational Pitfalls of the ‘New’ Pact on Migration and Asylum.

22 Thym, Daniel (2020): Secondary Movements: Overcoming the Lack of Trust among the Member States?

23 Maiani, Francesco (2020): A “Fresh Start” or One More Clunker? Dublin and Solidarity in the New Pact.

24 Maiani, Francesco (2020): A “Fresh Start” or One More Clunker? Dublin and Solidarity in the New Pact.

25 EU-Parlament (2021): The European Commission’s legislative proposals in the New Pact on Migration and Asylum; S. 105 ff.

26 EU-Parlament (2021): The European Commission’s legislative proposals in the New Pact on Migration and Asylum; S. 122.

27 Ineli-Ciger, Meltem (2020): What a difference two decades make? The shift from temporary to immediate protection in the new European Pact on Asylum and Migration.