von Marc Speer
Nachdem im ersten Teil der Artikelserie zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) die erste und die zweite Phase des GEAS näher beleuchtet wurden, beschäftigt sich der zweite Teil mit dem Beginn der dritten Phase nach dem Sommer der Migration (2015) bis zum vorläufigen Scheitern der Verhandlungen im Jahr 2018.
Das GEAS und der Sommer der Migration
Die Rechtsakte der ersten (2000–2005) und zweiten Phase (2010–2013) des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wurden vor dem Hintergrund relativ niedriger Asylantragszahlen in Europa verabschiedet. Nach dem Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien waren die Zahlen stark zurückgegangen und lagen zwischen 2000 und 2012 bei jeweils 200.000 bis 400.000 Anträgen jährlich.1
Dies war sicherlich ein wesentlicher Grund dafür, dass sich die südlichen Außengrenzenstaaten überhaupt auf das in der Dublin-II- und der Dublin-III-Verordnung fest- beziehungsweise fortgeschriebene Prinzip einließen, demzufolge sie es sind, die in der Regel für die Aufnahme von Asylsuchenden zuständig sind. Vielmehr sind sie wohl schlichtweg davon ausgegangen, auch zukünftig für nicht übermäßig viele Asylgesuche zuständig zu sein. Die osteuropäischen Außengrenzenstaaten wiederum hatten überhaupt keine andere Wahl, als der Dublin-II-Verordnung beizutreten, war dies doch unabdingbare Voraussetzung für ihren Beitritt zur EU (2004) und zum Schengenraum (2007). Wie sich zeigte, funktionierte das Dublin-System in der Praxis jedoch von Anfang an nicht wie geplant. Einerseits blieben einheitliche Standards bei der Durchführung von Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen reine Fiktion, was Sekundärmigration begünstigte und zudem einige weitreichende Gerichtsentscheidungen nach sich zog, die Dublin-Überstellungen in eine Reihe von Ländern verunmöglichten oder zumindest erheblich erschwerten. Andererseits blieb die Frage einer solidarischen Aufnahme unbeantwortet, weshalb die Außengrenzenstaaten wenig Interesse daran hatten, Dublin-Überstellungen auch tatsächlich zu ermöglichen.
Die faktische Dysfunktionalität des Dublin-Systems – immerhin ein Kernelement des GEAS – traf ab 2013 mit einem sprunghaften Anstieg der Asylantragszahlen zusammen. Im Jahr 2015 erreichten diese mit über 1,3 Millionen Anträgen ihren Höhepunkt.2 In diese Zeit fiel auch die Umsetzungsphase der Rechtsakte der zweiten Phase des GEAS, die ursprünglich bis Juli 2015 hätte abgeschlossen sein sollen.3 Allerdings wurden die Richtlinien in vielen Mitgliedstaaten nur unzureichend umgesetzt, weshalb die Kommission eine Vielzahl von Vertragsverletzungsverfahren einleitete.4 Während die zweite Phase des GEAS also noch nicht einmal vollständig umgesetzt war, wurde im Zuge des Sommers der Migration mehr als deutlich, dass das bestehende GEAS vor allem aufgrund eines fehlenden effektiven Solidaritätsmechanismus nicht in der Lage war, europäische Lösungen für hohe Asylantragszahlen und den Umgang mit asylfeindlichen Regierungen, wie in Ungarn, zu bieten. Spätestens jetzt war klar, dass die im Post-Stockholm-Programm (2015–2019) vorgesehene Fokussierung auf die Umsetzung und Implementierung der Rechtsakte der zweiten Phase des GEAS5 nicht mehr aufrechterhalten werden konnte und weitergehende Maßnahmen unumgänglich waren. Dies spiegelt sich auch in einer Kommissionsmitteilung vom April 2016 wider:
»In der Krise sind die erheblichen strukturellen Defizite und Unzulänglichkeiten der Konzeption und Umsetzung der europäischen Asyl-und Migrationspolitik deutlich zutage getreten. Die EU muss jetzt, wie in der Europäischen Migrationsagenda dargelegt, das Instrumentarium für eine mittel- und langfristig bessere Steuerung der Migrationsströme bereitstellen«.6
Dies war nicht zuletzt deswegen notwendig, weil die EU-Institutionen dringend Handlungsfähigkeit demonstrieren mussten, nachdem sie im Sommer der Migration nahezu vollständig von der Bildfläche verschwunden waren. Sowohl bei der Öffnung des formalisierten Korridors über den Balkan im Sommer 2015 als auch bei dessen Schließung spielten sie faktisch keine Rolle – es wurde fast ausschließlich auf nationaler und zwischenstaatlicher Ebene agiert.7 Auch die im September 2015 von der EU beschlossene Umverteilung von Geflüchteten stellte sich als Fehlschlag heraus: Von ihr profitierten weit weniger Geflüchtete als ursprünglich vereinbart.8
Kommissionsvorschläge von 2016
Im Mai 2016 legte die Kommission in einem ersten Paket zunächst Vorschläge für eine Reform der Dublin-III-Verordnung, der EASO-Verordnung und der Eurodac-Verordnung vor. In einem zweiten Paket legte sie im Juli 2016 Vorschläge für eine Asylverfahrensverordnung, eine Qualifikationsverordnung und eine Neufassung der Aufnahmerichtlinie vor. Zudem unterbreitete die Kommission einen Vorschlag für eine Resettlement‐Verordnung.9
Vorschlag für eine Dublin-IV-Verordnung
Mit ihrem Vorschlag für eine Dublin-IV-Verordnung wollte die EU-Kommission nicht nur an den bis dato geltenden Dublin-Regeln festhalten, sondern sogar eine Reihe von Verschärfungen einführen, um Sekundärmigration zu sanktionieren und Überstellungen zu erleichtern. Dabei hätte die Dublin-IV-Verordnung auch auf Geflüchtete anwendbar sein sollen, denen in einem Mitgliedstaat bereits internationaler Schutz zugesprochen wurde. Zudem war vorgesehen, dass derjenige Mitgliedstaat, in dem erstmals ein Asylantrag gestellt wurde, nur dann ein Dublin-Verfahren durchführt, wenn eine vorangestellte, verpflichtend durchzuführende Prüfung ergäben hätte, dass der/die Antragsteller:in weder aus einem sicheren Drittstaat oder ersten Asylstaat, noch aus einem sicheren Herkunftsstaat eingereist ist. Außerdem sollte die Regelung, dass die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats erlischt, wenn die betreffende Person das Gebiet der Mitgliedstaaten für mehr als drei Monate verlässt, ersatzlos gestrichen werden. Die Überstellungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten sollten durch die Verkürzung der entsprechenden Anfrage- und Antwortfristen gestrafft werden. In einer Vielzahl der Fälle hätte der angefragte Staat überdies überhaupt nicht mehr zustimmen müssen, sondern lediglich den Eingang der Überstellungsmitteilung bestätigen müssen. Auch der bisherige, in der Regel nach sechs Monaten eintretende, automatische Zuständigkeitsübergang im Falle einer Nichtüberstellung sollte ersatzlos gestrichen werden. Zudem sollte die Möglichkeit zum freiwilligen Selbsteintritt auf Fälle beschränkt werden, in denen familiäre Gründe vorliegen. Der Rechtsschutz wiederum sollte auf familiäre Gründe und das Vorliegen systemischer Mängel im Zielstaat begrenzt werden. Damit wäre etwa eine gerichtliche Korrektur einer fehlerhaften Zuständigkeitsbestimmung nicht mehr möglich gewesen. Weiterhin waren weitreichende Leistungskürzungen vorgesehen, falls sich die antragstellende Person nicht in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat aufhält. Als Ausgleich für die Außengrenzenstaaten, die absehbar wesentlich mehr Geflüchtete hätten aufnehmen müssen, schlug die Kommission einen Korrekturmechanismus vor. Dieser sah vor, dass Asylsuchende in andere Mitgliedstaaten umverteilt werden, wenn ein Land mehr als 150 Prozent eines festzusetzenden Richtwertes erreicht. Alternativ zur Aufnahme eines Asylsuchenden hätten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit gehabt, eine Zahlung in Höhe von 250.000 EUR zu leisten. Eine Einbeziehung der Präferenzen der Asylsuchenden hinsichtlich des zugewiesenen Aufnahmestaats war nicht vorgesehen.10
Vorschlag zur Schaffung einer Europäischen Asylagentur
Nach dem Willen der Kommission sollte das Anwenden und Verwalten des Korrekturmechanismus dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) übertragen werden. Im Zuge der Neufassung der entsprechenden Verordnung sollte es in Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) umbenannt werden. Mit der Umbenennung sollte nicht zuletzt dem erweiterten Mandat Rechnung getragen werden, das die Kommission für die EUAA auch in anderen Bereichen vorsah: So wäre etwa die bisher freiwillige Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten mit der EUAA verpflichtend geworden. Zudem sollte die Agentur eine wichtige Rolle bei der Erstellung einer gemeinsamen Liste sicherer Herkunftsstaaten spielen. Die EUAA sollte außerdem zu einem Kontrollorgan für die Umsetzung des GEAS ausgebaut werden. Sie sollte sich dabei nicht nur auf die von den Mitgliedstaaten übermittelten Informationen verlassen müssen, sondern auch eigene Ortsbesichtigungen durchführen und Stichproben auswerten können. Sollte ein Mitgliedstaat »unverhältnismäßigem Druck« ausgesetzt sein, sollte die EUAA diesen Mitgliedstaat zudem und notfalls auch gegen dessen Willen mit einem umfassenden Paket an Maßnahmen unterstützen. Dabei hätte die EUAA auf eine Reserve von mindestens 500 Expert:innen aus den Mitgliedstaaten zurückgreifen können.11
Vorschlag für eine neue Eurodac-Verordnung
Der Vorschlag zur Neufassung der Eurodac-Verordnung sah eine Ausweitung ihres Geltungsbereichs vor. So sollten von Kindern nicht erst ab einem Alter von 14 Jahren, sondern bereits ab einem Alter von sechs Jahren Fingerabdrücke erfasst werden. Außerdem sollten neben den Fingerabdrücken auch Gesichtsbilder erfasst und die Speicherfrist erhöht werden. Darüber hinaus war vorgesehen, die gespeicherten Daten zu Rückführungszwecken mit Drittstaaten auszutauschen und die Voraussetzungen für einen künftigen Austausch mit dem Schengener Informationssystem (SIS) und dem Visa-Informationssystem (VIS) zu schaffen.12
Einführung einer Asylverfahrensverordnung
Gemäß dem Kommissionsvorschlag hätte die bisherige Asylverfahrensrichtlinie zu einer unmittelbar anwendbaren Verordnung werden sollen. Die Durchführung von Grenzverfahren wäre weiterhin nicht verpflichtend gewesen. Es waren jedoch relativ enge Fristen für die Durchführung von beschleunigten Verfahren (verpflichtend etwa bei Herkunft aus einem sicheren Herkunftsstaat), von Unzulässigkeitsverfahren (verpflichtend etwa bei Einreise aus einem sicheren Drittstaat) und von Rechtsschutzverfahren vorgesehen. Der Vorschlag sah zudem die Einführung einer verbindlichen Liste sicherer Herkunftsstaaten vor, an deren Erstellung die Asylagentur der Europäischen Union maßgeblich beteiligt gewesen wäre. Dies wäre auch im Hinblick auf die Erstellung einer Liste sicherer Drittstaaten auf Unionsebene der Fall gewesen. Dabei hätten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit bekommen, das Konzept »in Einzelfällen« auch dann anzuwenden, wenn der Drittstaat weder in der EU-weiten Liste sicherer Drittstaaten noch in einer nationalen Liste sicherer Drittstaaten aufgeführt ist. Zudem hätte die Verletzung von festgelegten Mitwirkungspflichten durch die asylsuchende Person zwingend zur Ablehnung des Asylantrags führen müssen. Die Mitgliedstaaten wären weiterhin verpflichtet gewesen, eine kostenlose rechtliche Beratung im Asyl- und Rechtsschutzverfahren anzubieten, wobei Ausnahmen vorgesehen waren, etwa wenn keine konkreten Erfolgsaussichten bestehen. Für unbegleitete minderjährige Antragsteller:innen hätte außerdem grundsätzlich innerhalb von fünf Arbeitstagen ein Vormund bestellt werden müssen.13
Einführung einer Qualifikationsverordnung
Auch die bisherige Qualifikationsrichtlinie hätte zu einer Verordnung werden sollen. Dies hätte zur Folge gehabt, dass internationaler Schutz nur noch gemäß den Vorgaben der Richtlinie gewährt werden darf, weitreichendere nationale Regelungen wären grundsätzlich nicht mehr möglich gewesen. Der Vorschlag sah außerdem vor, dass von Antragsteller:innen selbst geschaffene Nachfluchtgründe in der Regel nicht mehr zur Zuerkennung internationalen Schutzes in einem Folgeverfahren führen können. Zudem wäre die Prüfung des Vorliegens einer inländischen Fluchtalternative verpflichtend geworden und die Vorgaben, wie dies zu geschehen hat, wären konkretisiert worden. Zudem sah der Vorschlag vor, dass die nationalen Asylbehörden verpflichtet gewesen wären, die Herkunftsländerinformationen der EUAA sowohl bei der Antragsprüfung als auch bei der Überprüfung des Schutzstatus zu berücksichtigen. Letzteres wäre insbesondere dann verpflichtend geworden, wenn die Informationen der EUAA auf eine wesentliche Änderung im Herkunftsland hindeuten. Außerdem sah der Vorschlag vor, dass die Fünfjahresfrist, die zur Erteilung eines EU-Daueraufenthalts notwendig ist, von vorne zu laufen beginnt, wenn sich die betreffende Person länger als erlaubt in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat.14
Vorschlag für eine neue Aufnahmerichtlinie
Abgesehen von der Absenkung der maximalen Frist für die Gewährung von Arbeitsmarktzugang von neun auf sechs Monate zielte die von der Kommission vorgeschlagene Neufassung der Aufnahmerichtlinie vor allem auf eine stärkere Sanktionierung von Sekundärmigration ab. So sah der Vorschlag vor, dass Asylantragsteller:innen, die sich nicht im gemäß den Dublin-Kriterien zuständigen Staat aufhalten, keinen Anspruch auf materielle Leistungen, Zugang zu Bildung für Minderjährige sowie Beschäftigung und berufliche Bildung haben. Die Mitgliedstaaten sollten für diese Gruppe lediglich einen nicht näher definierten »menschenwürdigen Lebensstandard« gewährleisten müssen. Außerdem sollten die Mitgliedstaaten »erforderlichenfalls« verpflichtet sein, einen bestimmten Aufenthaltsort zuzuweisen, wenn dies zur zügigen Bearbeitung eines Dublin-Verfahrens oder zur Verhinderung des Untertauchens notwendig ist. Letzteres sollte dabei explizit für Personen gelten, die gemäß der Dublin-Verordnung zurückgeschickt wurden. In diesen Fällen hätten die gewährten materiellen Leistungen zudem gekürzt oder in geänderter Form gewährt werden können – ebenso wie aus weiteren, sehr weit gefassten Gründen. Zudem sollte ein neuer Haftgrund eingeführt werden, der anwendbar sein sollte, wenn gegen die Verpflichtung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, verstoßen wird und Fluchtgefahr besteht.15
Vorschlag zur Einführung einer Resettlement-Verordnung
Die von der Kommission vorgeschlagene Neueinführung einer Resettlement-Verordnung hätte einen gemeinsamen Rahmen für die direkte Aufnahme schutzbedürftiger Personen aus Drittstaaten schaffen sollen, in die beziehungsweise in denen sie vertrieben wurden. Bei der Auswahl der Drittstaaten sollte auch berücksichtigt werden, ob diese bei der Migrationskontrolle im Sinne der EU kooperieren. Von der Aufnahme ausgeschlossen werden sollten Personen, die in den fünf Jahren vor der Neuansiedlung irregulär in die EU eingereist sind oder einen entsprechenden Versuch unternommen haben. Zur Umsetzung hätte der Rat auf Vorschlag der Kommission jährlich einen Neuansiedlungsplan mit Angaben zur maximalen Gesamtzahl der aufzunehmenden Personen, zur Beteiligung der Mitgliedstaaten und zu den allgemeinen geografischen Prioritäten festlegen sollen. Die Kommission hätte wiederum gezielte Neuansiedlungsregelungen erlassen sollen, die im Einklang mit dem jährlichen Neuansiedlungsplan stehen. In diesen Regelungen hätte auch festgelegt werden sollen, ob das Regelverfahren oder ein Eilverfahren zur Anwendung kommt. Im Regelverfahren wäre die Bewertung, ob die betreffende Person Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz erhält, erfolgt, während sie sich noch im Drittstaat aufhält. Im Eilverfahren wäre nur geprüft worden, ob die betreffende Person für den subsidiären Schutz in Betracht kommt. Eine anschließende Prüfung, ob auch Flüchtlingsschutz in Betracht kommt, hätte erst nach der Einreise stattgefunden. In beiden Verfahren wäre der aufnehmende Mitgliedstaat für die Prüfung zuständig gewesen und hätte für jede aufgenommene Person 10.000 EUR aus dem Unionshaushalt erhalten.16
Insgesamt betrachtet stellten die Kommissionsvorschläge den Versuch dar, einerseits den Aspekt der innereuropäischen Solidarität zu stärken. Von besonderer Bedeutung wäre hierbei die Einführung eines Korrekturmechanismus in die Dublin-Verordnung gewesen, von dem vor allem die südlichen Außengrenzenstaaten profitiert hätten (»Solidaritätskomponente«). Andererseits setzten die Vorschläge auf Modifikationen zur Reduktion unerwünschter Sekundärmigration, was im Interesse der nordwestlichen EU-Staaten gewesen wäre (»Verantwortungskomponente«).17
Scheitern der Verhandlungen
Fünf der insgesamt sieben von der Kommission vorgeschlagenen Rechtsakte gelangten vergleichsweise schnell in den Trilog-Prozess, da sich sowohl der Rat als auch das Parlament auf eine Verhandlungsposition einigen konnten. Dies betraf die Vorschläge zur Schaffung einer Europäischen Asylagentur, zur Neufassung der Eurodac-Verordnung beziehungsweise der Aufnahmerichtlinie sowie zur Einführung einer Qualifikationsverordnung beziehungsweise einer Resettlement-Verordnung. Darüber hinaus hatte das Parlament auch Verhandlungspositionen zum Vorschlag für eine Dublin-IV-Verordnung und zur Einführung einer Asylverfahrensverordnung eingenommen, was dem Rat jedoch nicht gelang.18
Zwar hätte eine Einigung im Rat in rechtlicher Hinsicht lediglich einer qualifizierten Mehrheit bedurft, doch nach den faktisch kaum umgesetzten, mehrheitlich gefassten Umverteilungsentscheidungen von 2015 war ein Konsens unumgänglich. Hinzu kam die Schwierigkeit, dass man sich darauf verständigt hatte, die Rechtsakte nicht getrennt, sondern nur gemeinsam (Paketansatz) zu verabschieden. Die südlichen Außengrenzstaaten (Spanien, Zypern, Griechenland, Italien und Malta) wollten damit ihre Interessen bei der Reform der Dublin-Verordnung wahren, wohingegen sich das EU-Parlament davon vor allem die Wahrung menschenrechtlicher Standards versprach.19
Während in den vorangegangenen Verhandlungen vor allem Meinungsverschiedenheiten zwischen der Kommission und dem EU-Parlament auf der einen Seite und dem Rat auf der anderen Seite zu beobachten waren, der die Positionen ersterer vielfach als zu liberal zurückwies, traten nun verstärkt Konflikte innerhalb des Rats zutage. Im Rahmen der bulgarischen Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2018 gerieten die Verhandlungen sogar in eine Sackgasse. Ursache dafür war, dass viele Mitgliedstaaten, die in den Verhandlungen der ersten und zweiten GEAS-Phase noch passiv agiert hatten, sich nun klar auf die Seite der »Unterstützer« oder »Blockierer« einer erneuten GEAS-Reform gestellt hatten. Nach dem Sommer der Migration war das Thema schlichtweg zu aufgeladen und die Mitgliedstaaten waren – auch mit Blick auf die eigenen innenpolitischen Gegebenheiten – kaum zu Kompromissen bereit. Sie verteidigten ihre vermeintlichen eigenen Interessen mit aller Härte. Zur Gruppe der »Blockierer« gehörten vor allem die Visegrád-Staaten (Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien). Sie sprachen sich strikt gegen die Aufnahme von Geflüchteten aus den südlichen Außengrenzenstaaten aus, da dies für rechtspopulistische und EU-skeptische Regierungen kaum vermittelbar gewesen wäre. Hinzu kam, dass Italien eine ambivalente Rolle einnahm: Das Land lehnte das first country of entry principle der Dublin-Verordnung generell ab und der spätere Innenminister Matteo Salvini zeigte nur wenig Interesse an einer europäischen Einigung in der Flüchtlingsfrage, nachdem er im Zuge der Parlamentswahlen im März 2018 massiv gegen die EU polemisiert hatte. Ähnliches galt für Österreich, das zum damaligen Zeitpunkt von einer ÖVP/FPÖ-Koalition regiert wurde und in der zweiten Jahreshälfte 2018 zudem die EU-Ratspräsidentschaft übernahm. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Angst der südeuropäischen Außengrenzstaaten, dass die »Solidaritätskomponente« unter den Tisch fallen könnte, war ein letzter Versuch Deutschlands, Frankreichs und der Kommission, bis Ende 2018 zumindest ein »Mini-Paket« (ohne Dublin-IV) auf den Weg zu bringen, zum Scheitern verurteilt. Aufgrund der im Mai 2019 anstehenden Neuwahl des EU-Parlaments und des daraus resultierenden Zeitdrucks war eine Einigung während der folgenden rumänischen Ratspräsidentschaft de facto ausgeschlossen, sodass die GEAS-Reform vorläufig gescheitert war.20
Zwischenfazit und Ausblick
Obwohl spätestens mit dem Sommer der Migration klar war, dass das GEAS einer grundlegenden Reform bedurfte, konnten sich die Mitgliedstaaten in den folgenden Jahren nicht einigen. Dies ist auf die divergierenden Interessen der Mitgliedstaaten, allem voran im Hinblick auf die Reform der Dublin-Verordnung, zurückzuführen. Die Verabschiedung der anderen Rechtsakte scheiterte an dem vereinbarten Paketansatz und die politischen Gegebenheiten erforderten zudem eine konsensuale Einigung im Rat. Die Auflösung dieser Blockade wurde erst durch fünf neue Legislativvorschläge eingeleitet, welche die Kommission im September 2020 im Rahmen eines neuen Migrations- und Asylpakets vorlegte. Diese Vorschläge und die darauf folgenden Entwicklungen werden Gegenstand des dritten Teils dieser Artikelserie sein.
1 Europäischer Rat: Asylanträge in der EU.
3 EU-Parlament (2024): Kurzdarstellungen zur Europäischen Union. Asylpolitik; S. 3 f.
4 Bendel, Petra (2017): EU-Flüchtlingspolitik in der Krise: Blockaden, Entscheidungen, Lösungen; S. 30.
5 Peers, Steve (2014): The next multi-year EU Justice and Home Affairs programme Views of the Commission and the Member States; S. 2.
6 Europäische Kommission (2016): Reformierung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und Erleichterung legaler Wege nach Europa.
7 Speer, Marc (2016): Die Geschichte des formalisierten Korridors. Erosion und Restrukturierung des Europäischen Grenzregimes auf dem Balkan.
8 Mit zwei Rats-Beschlüssen wurde 2015 die Umverteilung von insgesamt 160.000 Geflüchteten aus Italien und Griechenland in andere EU-Staaten beschlossen. Tatsächlich umverteilt wurden bis zum Ende des Programms jedoch weniger als 29.000 Menschen (InfoMigrants 2017: EU relocation scheme ends to mixed reviews).
9 COM(2016) 466 final; S. 3.
17 Zaun, Natascha (2020): Fence-sitters no more. Southern and Central Eastern European Member States’ role in the deadlock of the CEAS reform; S. 10 f.
18 Pollet, Kris (2019): All in vain? The fate of EP positions on asylum reform after the European elections.
19 Netzwerk Fluchtforschung (2022): Zwei Jahre EU-Migrationspakt: Was bleibt vom Neustart?
20 Zaun, Natscha (2020): Fence-sitters no more. Southern and Central Eastern European Member States’ role in the deadlock of the CEAS reform.