GEAS-Watch #1

von Marc Speer

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Der erste Teil der Artikelserie zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) beleuchtet die Geschichte des GEAS, konkret die erste Phase ab 1999 und die zweite Phase ab 2008. Hinzu kommt ein Überblick über die im Zuge dessen verabschiedeten Richtlinien und Verordnungen, die gegenwärtig noch zur Anwendung kommen.

Erste GEAS-Phase

Die Anfänge der Europäisierung der Asyl- und Migrationspolitik reichen bis ins Jahr 1990 zurück, als das Schengener Durchführungsübereinkommen (Schengen II) und das Dubliner Übereinkommen verabschiedet wurden. Die im Dubliner Übereinkommen auf zwischenstaatlicher Ebene vereinbarten Regelungen zur Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren wurden jedoch erst ab 1997 angewandt. Parallel wurde mit dem 1992 unterzeichneten Vertrag von Maastricht auf europäischer Ebene eine Zusammenarbeit im Asylbereich vereinbart, allerdings in der zwischenstaatlichen so genannten Dritten Säule. Von einer Vergemeinschaftung kann somit erst mit dem 1999 in Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam gesprochen werden. Denn erst dieser schuf die Möglichkeit, europäische Rechtsakte in diesem Politikbereich zu erlassen. Konkretisiert wurden die Pläne auf einer Sondertagung des Europäischen Rates im finnischen Tampere im Oktober 1999, die das Tampere-Programm (2000–2004) einleitete.1

In den Schlussfolgerungen der Sondertagung des Europäischen Rates in Tampere wird erstmals von einem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) gesprochen. Wörtlich heißt es dort:

»Der Europäische Rat bekräftigt die Bedeutung, die die Union und die Mitgliedstaaten der unbedingten Achtung des Rechts auf Asyl beimessen. Er ist übereingekommen, auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem hinzuwirken, das sich auf die uneingeschränkte und allumfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention stützt, wodurch sichergestellt wird, daß niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist, d.h. der Grundsatz der Nichtzurückweisung gewahrt bleibt«.2

Das GEAS stellt ein zentrales Element auf dem Weg der EU hin zu einem »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« dar, der im Vertrag von Amsterdam als Ziel ausgegeben wird. Konkret heißt es dort, dass sich die Union

»die Erhaltung und Weiterentwicklung der Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts [als Ziel setzt], in dem in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität der freie Personenverkehr gewährleistet ist«.3

Die Europäisierung der Asylpolitik war in ihrer ersten Phase nicht zuletzt von deutschen Interessen geleitet: Bis dahin weitgehend unbekannte Konzepte wie das des sicheren Drittstaates und des sicheren Herkunftsstaates wurden von deutscher Seite ganz offensichtlich mit dem Ziel in die Debatte eingebracht, die Zahl der Asylanträge in Deutschland zu reduzieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Europäische Parlament bei der Gesetzgebung der ersten GEAS-Phase kein Mitentscheidungsrecht hatte und der Rat einstimmig entscheiden musste. Deutschland konnte somit Regelungen, die nicht ins eigene Kalkül passten, einfach blockieren, so dass die Gesetzgebung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hinauslief.4

Zu den Rechtsakten, die im Rahmen der ersten Phase des GEAS verabschiedet wurden, gehören die Eurodac-Verordnung (2000), die Massenzustrom-Richtlinie (2001), die Aufnahmerichtlinie (2003), die Dublin-II-Verordnung (2003), die Qualifikationsrichtlinie (2004) und die Asylverfahrensrichtlinie (2005).5

Die Dublin-II-Verordnung und die Eurodac-Verordnung dienen der Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaates. Die Asylverfahrensrichtlinie macht Vorgaben für die konkrete Durchführung von Asylverfahren, wobei die inhaltliche Prüfung gemäß der Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie zu erfolgen hat. Die Aufnahmebedingungen während des Asylverfahrens sind in der Aufnahmerichtlinie geregelt. Die Massenzustrom-Richtlinie ermöglicht ein Aufnahmeverfahren jenseits des Asylverfahrens, das im März 2022 im Zuge des Krieges in der Ukraine erstmals angewandt wurde. Während Verordnungen in jedem Mitgliedstaat unmittelbar gelten, enthalten Richtlinien Vorgaben, die innerhalb einer bestimmten Frist in nationales Recht umgesetzt werden müssen.

Die genannten Richtlinien legten lediglich Mindestnormen fest und ließen den Mitgliedstaaten somit die Möglichkeit offen, darüber hinauszugehen. Längerfristig sollte die Einigung auf Mindestnormen zu einem »gemeinsamen Verfahren« und einem »einheitlichen Status« führen, was im Zuge der zweiten GEAS-Phase erreicht werden sollte.6

Zweite GEAS-Phase

Ursprünglich sah das Haager Programm (2005–2009), welches auf das Tampere-Programm folgte, vor, dass die Rechtsakte der zweiten GEAS-Phase bis Ende 2010 verabschiedet werden sollen und die Kommission hatte entsprechende Vorschläge in den Jahren 2008 und 2009 auch vorgelegt. Später wurde diese Frist jedoch bis 2012 verlängert.7 Sie fiel damit in das Stockholmer Programm (2010–2014).

Die Verhandlungen gestalteten sich auch deshalb schwierig, weil das Europäische Parlament seit Mai 2004 über ein Mitentscheidungsrecht verfügte. Zudem war seit diesem Zeitpunkt zwar nur noch eine qualifizierte Mehrheit im Rat für die Verabschiedung von Rechtsakten des GEAS notwendig, durch die EU-Erweiterung waren aber wesentlich mehr Staaten stimmberechtigt.8

In die zweite GEAS-Phase fällt auch der Ende 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon, mit dem die Rolle des Europäischen Parlaments als vollwertiger Mitgesetzgeber bekräftigt wurde:

»Die Kommission bringt weiterhin Vorschläge für Richtlinien oder Verordnungen ein, Parlament und Rat beschließen dann zunächst ihre jeweiligen Positionen dazu. Im Rahmen eines ›Trilogs‹, d.h. bei Verhandlungen zwischen Kommission, Rat und Parlament wird dann versucht, einen Kompromiss auszuhandeln. Ein Musterbeispiel für Transparenz ist dieses Verfahren immer noch nicht: Im Rat finden die Beratungen in der Regel hinter verschlossenen Türen statt; dasselbe gilt für die Trilog-Verhandlungen. Die staunende Öffentlichkeit wird dann mit den Ergebnissen konfrontiert, ohne dass man immer nachvollziehen könnte, wie sie im Einzelnen zustande gekommen sind«.9

In den Verhandlungen war insbesondere die Neufassung der Dublin-II-Verordnung umstritten: Die Kommission wollte eine Aussetzungsklausel aufnehmen, mit der Überstellungen in einen Mitgliedstaat zunächst für ein halbes Jahr hätten ausgesetzt werden können, wenn das dortige Asylsystem zusammengebrochen ist, so wie es damals in Griechenland der Fall war. Mit diesem Vorschlag konnte sich die Kommission gegenüber dem Rat jedoch nicht durchsetzen, da viele Mitgliedstaaten dadurch das Dublin-System insgesamt in Frage gestellt sahen. Stattdessen sollte die Kommission in Zusammenarbeit mit dem European Asylum Support Office (EASO), auf welches im Folgenden noch eingegangen wird, lediglich Empfehlungen aussprechen können.10 Ein weiterer heftig umstrittener Punkt war die Frage, ob auch Sicherheitsbehörden Zugriff auf die in der Eurodac-Datenbank gespeicherten Daten erhalten sollen. Letztlich setzte sich der Rat mit seiner Forderung nach weitreichenden Zugriffsrechten gegenüber Kommission und Parlament durch, indem er damit drohte, auch die Verhandlungen über die anderen noch ausstehenden Rechtsakte scheitern zu lassen.11

Der Vertrag von Lissabon ist für die Entwicklung des GEAS auch insofern von Bedeutung, als er vorsieht, dass nunmehr alle zuständigen nationalen Gerichte – und nicht mehr nur die letztinstanzlichen – den EuGH um Auslegung der Rechtsakte des GEAS ersuchen können.12 Dies hat die Entwicklung einer umfassenden Rechtsprechung des EuGH begünstigt und die Entscheidungen des EuGH mussten bei der Rechtsetzung der zweiten Phase des GEAS berücksichtigt werden. Als Beispiel kann eine Entscheidung des EuGH zu Dublin-Überstellungen nach Griechenland angeführt werden, die später in die Neufassung der Dublin-Verordnung aufgenommen wurde. In der Entscheidung des EuGH wurde festgestellt, dass Dublin-Überstellungen zu unterbleiben haben, wenn »das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung […] implizieren«.13

Zu beachten ist auch, dass im Vertrag von Lissabon nicht mehr von Mindeststandards die Rede ist, sondern von »gemeinsamen« oder »einheitlichen« Verfahren und Standards gesprochen wird. Ungeachtet der eigentlichen Intention schließt dies jedoch nicht aus, dass das EU-Recht weiterhin nur Mindeststandards festlegt, so wie dies bei der Neufassung der Aufnahmerichtlinie, der Qualifikationsrichtlinie und der Asylverfahrensrichtlinie auch geschehen ist. Die Mitgliedstaaten können also weiterhin über die Mindeststandards hinausgehen, zumindest dann, wenn die »nationalen Bestimmungen mit der entsprechenden Richtlinie vereinbar sind«. Zur Frage, was dies genau bedeutet, hat sich der EuGH in einer Reihe von Entscheidungen geäußert.14

Rechtsakte der ersten und zweiten GEAS-Phase

Die Rechtssetzungsphase der zweiten GEAS-Phase begann mit der Neueinführung der EASO-Verordnung (2010). Anschließend wurden drei der bereits in der ersten GEAS-Phase verabschiedeten Richtlinien durch Neufassungen ersetzt: die Qualifikationsrichtlinie (2011), die Asylverfahrensrichtlinie (2013) und die Aufnahmerichtlinie (2013). Darüber hinaus wurde die Dublin-II-Verordnung (2003) durch die Dublin-III-Verordnung (2013) ersetzt und eine Neufassung der Eurodac-Verordnung (2013) verabschiedet.15 Die Rechtssetzungsphase der zweiten Phase des GEAS endete damit deutlich später, als ursprünglich geplant.

EASO-Verordnung (2010)

Mit der EASO-Verordnung von 2010 wurde die Einrichtung des European Asylum Support Office (EASO) beschlossen,16 das später durch die European Union Agency for Asylum (EUAA) ersetzt wurde.17

Die Hauptaufgabe von EASO bestand darin, die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern und damit zu einer besseren Umsetzung des GEAS beizutragen. Direkten Einfluss auf die Entscheidungen der nationalen Asylbehörden konnte EASO nicht nehmen, sondern nur indirekt intervenieren, etwa durch die Verbreitung von Informationen über Herkunftsländer und durch Schulungen. Darüber hinaus sollte EASO diejenigen Mitgliedstaaten unterstützen, deren Asyl- und Ausnahmesysteme einem besonderen Druck ausgesetzt waren. Dazu konnte EASO auf Ersuchen des betroffenen Mitgliedstaates beispielsweise »Asyl-Unterstützungsteams« entsenden. Weiterhin erstellte EASO einmal jährlich einen »Bericht zur Asylsituation in der Union«, um »die Qualität, Kohärenz und Effizienz des GEAS zu verbessern«.18 Das Hauptquartier von EASO wurde im Sommer 2011 auf Malta eingerichtet. Zunächst konzentrierte man sich vor allem auf die Unterstützung Italiens und Griechenlands.19

Qualifikationsrichtlinie (2011)

Die ursprüngliche Qualifikationsrichtlinie wurde im Jahr 2004 verabschiedet20 und 2011 durch eine Neufassung ersetzt. Diese musste von den Mitgliedstaaten bis Dezember 2013 in nationales Recht umgesetzt werden.21

Die Richtlinie regelt die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. des subsidiären Schutzstatus und die damit verbundenen Rechte. Zudem gibt die Richtlinie vor, in welchen Fällen die Flüchtlingseigenschaft bzw. der subsidiäre Schutzstatus erlischt. Bei den Vorgaben der Richtlinie handelt es sich um Mindestnormen, d.h. die Mitgliedstaaten können günstigere Regelungen »erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar« sind.22

Hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft macht die Qualifikationsrichtlinie Vorgaben für die Bewertung von (drohenden) Verfolgungshandlungen, die mit einem der in der Richtlinie genannten Verfolgungsgründe in Zusammenhang stehen müssen, die sich wiederum an der Genfer Flüchtlingskonvention orientieren. Im Unterschied zur Flüchtlingsanerkennung, welche die Gefahr einer Verfolgung voraussetzt, muss für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes lediglich ein ernsthafter Schaden drohen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine »ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts« vorliegt. Verfolgung und ernsthafter Schaden können nicht nur von Staaten, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Nach der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes müssen die Mitgliedstaaten Aufenthaltstitel und Reisedokumente ausstellen. Außerdem muss Zugang zu Beschäftigung, Bildung, Sozialleistungen, medizinischer Versorgung und Wohnraum gewährt werden.23

Im Mittelpunkt der Neufassung der Qualifikationsrichtlinie stand die weitgehende Angleichung der Rechte von Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, und von Personen, die subsidiären Schutz erhalten haben. Darüber hinaus wurden die Voraussetzungen verschärft, unter denen die Mitgliedstaaten die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes mit Verweis auf eine innerstaatliche Fluchtalternative ablehnen können. Zudem wurde klargestellt, dass nicht nur Verfolgungshandlungen, sondern auch das Fehlen von Schutz vor Verfolgungshandlungen ausreichend für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind und dass geschlechtsspezifische Aspekte für sich genommen einen Verfolgungsgrund darstellen können.24

Asylverfahrensrichtlinie (2013)

Die ursprüngliche Fassung der Asylverfahrensrichtlinie wurde im Jahr 2005 verabschiedet,25 die Neufassung im Jahr 2013. Sie musste von den Mitgliedstaaten bis zum Juli 2015 in nationales Recht umgesetzt werden, wobei es den Mitgliedstaaten auch bei der Umsetzung dieser Richtlinie erlaubt war, günstigere Regelungen zu »erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar« sind.26

Die Richtlinie enthält Vorgaben zur Durchführung von Asylverfahren. Konkret regelt sie etwa den Zugang zum Asylverfahren, die Anforderungen an die Anhörung im Zuge des Verfahrens und Art um Umfang der Rechtsberatung, die zugänglich gemacht werden muss. Die Richtlinie gilt ausdrücklich auch für Anträge, die in Hoheitsgewässern oder in Transitzonen gestellt werden, wobei für letztere eine maximale Aufenthaltsdauer von vier Wochen vorgesehen ist. Weiterhin legt die Richtlinie Höchstzeiträume fest, innerhalb derer Asylanträge registriert werden müssen und stellt klar, dass Antragsteller:innen während der Antragsprüfung im Hoheitsgebiet verbleiben dürfen. In der Regel müssen Asylanträge innerhalb von drei Arbeitstagen nach der Antragstellung registriert werden und das Asylverfahren ist in der Regel innerhalb von sechs Monaten nach Antragstellung abzuschließen. Die Richtlinie regelt auch, wann beschleunigte Verfahren oder Grenzverfahren zulässig sind. Darüber hinaus enthält die Richtlinie Vorgaben für die Prüfung und Entscheidung von Asylanträgen. So darf etwa ein Antrag wegen der Einreise aus einem sicheren Drittstaat nur dann als unzulässig abgelehnt werden, wenn zwischen dem Drittstaat und dem/der Antragsteller:in eine Verbindung besteht, aufgrund derer es »vernünftig erscheint, dass diese Person sich in diesen Staat begibt«.27 Die Richtlinie stellt auch klar, dass Antragsteller:innen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine behördliche Entscheidungen haben.28

Zu den wesentlichen Änderungen im Rahmen der Neufassung der Richtlinie gehörten die Einführung von Fristen für die Registrierung und Bearbeitung von Asylanträgen, die explizite Regelung, dass zunächst die Flüchtlingseigenschaft und erst anschließend der subsidiäre Schutz zu prüfen ist, sowie die Einführung der Vorgabe, dass sich Antragsteller:innen bereits während der Anhörung zu fehlenden Angaben, Abweichungen oder Widersprüchen äußern dürfen.29

Aufnahmerichtlinie (2013)

Die Aufnahmerichtlinie wurde in ihrer ersten Fassung im Jahr 2003 verabschiedet.30 Ihre Neufassung wurde im Jahr 2013 verabschiedet und musste bis Juli 2015 in nationales Recht umgesetzt werden. Auch für die Aufnahmerichtlinie gilt, dass die Mitgliedstaaten »günstigere Bestimmungen für die im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile für Antragsteller […] erlassen oder beibehalten [können], sofern diese Bestimmungen mit dieser Richtlinie vereinbar sind«. Die Richtlinie legt Standards für die Lebensbedingungen während des Asylverfahrens fest.31

Konkret gibt die Aufnahmerichtlinie vor, dass minderjährige Kinder Zugang zu Bildung haben müssen. Darüber hinaus sind für alle Asylantragsteller:innen medizinische Versorgung und angemessene materielle Leistungen einschließlich Unterbringung zu gewähren. Spätestens nach neun Monaten muss der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht werden. Gemäß der Richtlinie dürfen Asylantragsteller:innen weiterhin nicht allein deswegen inhaftiert werden, weil sie einen Antrag gestellt haben, sondern die Haft muss erforderlich sein, d.h. Alternativen zur Haft müssen vorrangig geprüft werden. Außerdem muss ein Haftgrund vorliegen. Die möglichen Haftgründe werden in der Richtlinie abschließend aufgezählt. Im Einzelnen sind dies: Klärung der Identität, Sicherung von Beweismitteln (auf die sich der Antrag auf internationalen Schutz stützt), Entscheidung über die Einreise, Gefährdung der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung und Antragstellung allein zum Zweck der Verzögerung oder Verhinderung der Abschiebung. Darüber hinaus ist eine Inhaftierung unter bestimmten Voraussetzungen auch während eines laufenden Dublin-Verfahrens möglich. Wird ein/e Antragsteller:in inhaftiert, so hat dies für den kürzest möglichen Zeitraum zu erfolgen und es muss eine gerichtliche Überprüfung stattfinden, die regelmäßig zu wiederholen ist. In diesem Zusammenhang haben die Mitgliedstaaten eine kostenlose und qualifizierte Rechtsberatung zu gewährleisten. Die Richtlinie legt weiterhin fest, dass die Inhaftierung von Asylantragsteller:innen in der Regel getrennt von Strafgefangenen zu erfolgen hat.32

Mit der Neufassung der Aufnahmerichtlinie wurden die Regelungen zur Inhaftierung von Asylantragsteller:innen konkretisiert, die nun nur noch in Ausnahmefällen möglich sein sollte. Weitere Änderungen betrafen die Vorgaben zur Identifizierung besonders schutzbedürftiger Personen, zur Rechtsberatung und -vertretung im Rechtsmittelverfahren und erleichterten den Arbeitsmarktzugang.33

Dublin-III-Verordnung (2013)

Die Dublin-III-Verordnung, welche die Dublin-II-Verordnung aus dem Jahr 2003 ersetzte,34 wurde im Sommer 2013 verabschiedet und ist für ab dem 1. Januar 2014 gestellte Asylanträge anzuwenden.35

Die Verordnung legt fest, welcher EU-Staat36 für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Dies wird anhand von Kriterien bestimmt, für die eine Rangfolge festgelegt ist. Gemäß dieser hat bei minderjährigen Antragsteller:innen das Kindeswohl und bei Familien die Familieneinheit im Vordergrund zu stehen. Trifft keines dieser Kriterien zu, gilt das Verursacherprinzip: Zuständig wird der Mitgliedstaat, der die Einreise zu verantworten hat – entweder durch die Ermöglichung der visafreien Einreise, die Erteilung eines Visums oder dadurch, dass er die irreguläre Einreise zugelassen hat. Neben Vorgaben für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates beinhaltet die Dublin-III-Verordnung auch Vorgaben zur Durchführung von Überstellungen in den laut Verordnung zuständigen Mitgliedstaat. Ausnahmen von diesen Vorgaben, etwa in Form von Zurückweisungen an den europäischen Binnengrenzen, sieht die Dublin-III-Verordnung nicht vor.37

Mit dem Übergang von der Dublin-II-Verordnung zur Dublin-III-Verordnung wurde unter anderem festgelegt, dass die Dublin-Kriterien auch dann Anwendung finden, wenn der Asylantrag auf Erteilung des susidiären Schutzes beschränkt wurde. Zudem sieht die Neufassung der Verordnung in Anlehnung an das bereits erwähnte EuGH-Urteil vor, dass eine Überstellung zu unterbleiben hat, wenn das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen im Zielstaat »systemische Mängel« aufweisen und dadurch die Gefahr einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung besteht. Auch die Informationsrechte der Antragsteller:innen und die Garantien für Minderjährige wurden ausgeweitet. Zudem sieht die Neufassung der Verordnung vor, dass im Rahmen des Dublin-Verfahrens ein persönliches Gespräch zu führen ist und es wird ausdrücklich auf das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung hingewiesen.38

Eurodac-Verordnung (2013)

Die Eurodac-Verordnung, deren erste Fassung bereits im Jahr 2000 verabschiedet wurde,39 wurde 2013 durch eine Neufassung ersetzt, die seit Juli 2015 anzuwenden ist.40

Die Eurodac-Verordnung regelt die Erfassung, Übermittlung und Speicherung von Fingerabdrücken und personenbezogenen Daten von Asylantragsteller:innen und irregulär eingereisten Personen in einer zentralen Datenbank sowie den Austausch der entsprechenden Daten. Dies dient dem Zweck, den gemäß der Dublin-III-Verordnung für die Prüfung eines Asylantrages zuständigen Staat bestimmen zu können.41

Mit der Neufassung der Eurodac-Verordnung wurde auch Strafverfolgungs- und Gefahrenabwehrbehörden unter bestimmten Voraussetzungen ein Zugriff auf die in der Eurodac-Verordnung gespeicherten Daten eingeräumt. Eine weitere wesentliche Änderung bestand darin, dass nunmehr auch nach der Zuerkennung internationalen Schutzes die gespeicherten Daten im Rahmen der Durchführung von Dublin-Verfahren für einen Zeitraum von bis zu zehn Jahren zur Verfügung gestellt werden. Zuvor war vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten im Falle der Zuerkennung eines entsprechenden Schutzes eine Sperrung der Daten veranlassen.42

Zwischenfazit und Ausblick

In der jüngsten Debatte um das GEAS haben kritische Stimmen vehement auf die absehbaren negativen Auswirkungen der dritten Phase des GEAS hingewiesen. So zutreffend diese Feststellung einerseits ist, so wird andererseits häufig übersehen, dass die Anfänge des GEAS weit in die Vergangenheit zurückreichen und sich durchaus auch positive Effekte des GEAS konstatieren lassen. So zeigte sich etwa in Deutschland, dass die faktische Abschaffung des Asylrechts im Jahr 1993 durch die Einführung europarechtlicher Regelungen in Laufe der 2000er Jahre wieder entschärft wurde. Auch und gerade in den neuen EU-Mitgliedstaaten haben diese die Position von Asylsuchenden gestärkt.

Obwohl im Vertrag von Lissabon explizit als Ziel formuliert, ist es der EU auch mit der Verabschiedung der Rechtsakte der zweiten Phase des GEAS nicht gelungen, ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem mit tatsächlich »gemeinsamen« bzw. »einheitlichen« Verfahren und Standards zu etablieren.43 Dies liegt nicht zuletzt an einem »grundlegenden Geburtsfehler des Systems«, der darin besteht, dass ein System zur Bestimmung der Zuständigkeit für Asylanträge (Dublin) eingeführt wurde, lange bevor von »gemeinsamen« bzw. »einheitlichen« Verfahren und Standards überhaupt die Rede war und die bis heute reine Fiktion geblieben sind.44 Auch der Glaube daran, dass die anderen Elemente der europäischen Migrationspolitik jenseits des GEAS, also insbesondere die Einbeziehung der Herkunfts- und Transitstaaten in die Migrationskontrolle und der Schutz der EU-Außengrenzen,45 dazu führen würden, dass die Asylantragszahlen in der EU auf einem relativ niedrigen Niveau verharren oder sogar weiter sinken würden, hat sich als falsch erwiesen.

Mit dem Sommer der Migration (2015) brach das ohnehin kaum funktionierende Dublin-System dann vollends zusammen.46 Spätestens jetzt war klar, dass eine weitere Reform des GEAS unumgänglich ist und die Kommission legte 2016 neue Legislativvorschläge vor. Aufgrund gravierender Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten kamen die Verhandlungen im Rat jedoch nicht voran und scheiterten 2019 mit dem Ende der Junker-Kommission. Erst mit dem von der von der Leyen-Kommission im September 2020 vorgelegten New Pact on Migration and Asylum47 kam wieder Bewegung in den Prozess, der mit der Verabschiedung der entsprechenden Rechtsakte im Mai 2024 seinen vorläufigen Abschluss fand.

Ausführlicher dazu in den kommenden Artikeln.

1 Schröder, Tim (2024): GEAS-Reform 2024; S. 7. f.

2 Europäischer Rat (1999): Tampere. 15. und 16. Oktober 1999. Schlussfolgerungen des Vorsitzes; Rn. 13.

3 Vertrag von Amsterdam (1997); Rn. 5.

4 Keßler, Stefan (2013): Einleitung. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem; S. 1 ff.

5 EUAA: The evolution of the Common European Asylum System (CEAS).

6 EU-Parlament (2024): Kurzdarstellungen zur Europäischen Union. Asylpolitik; S. 2.

7 EU-Parlament (2024): Kurzdarstellungen zur Europäischen Union. Asylpolitik; S. 2 f.

8 Keßler, Stefan (2013): Einleitung. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem; S. 2.

9 Keßler, Stefan (2013): Einleitung. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem; S. 3.

10 Pelzer, Marei (2013): Die Dublin-III-Verordnung. Die neue EU-Verordnung zur Bestimmung des zuständigen Asylstaats; S. 30.

11 Habbe, Heiko (2013): Die neue EURODAC-Verordnung. Zankapfel der Harmonisierung des EU-Asylrechts; S. 39 ff.

12 EU-Parlament (2024): Kurzdarstellungen zur Europäischen Union. Asylpolitik; S. 3.

13 EuGH (2012): Urteil vom 21.12.2011; Rn. 86.

14 Peers, Steve (2024): Justice and Home Affairs Law. Volume I. EU Immigration and Asylum Law. Fifths Edition; 236 ff.

15 EUAA: The evolution of the Common European Asylum System (CEAS).

16 Verordnung (EU) 439/2010.

17 Verordnung (EU) 2021/2303.

18 Verordnung (EU) 439/2010.

19 Keßler, Stefan (2013): Einleitung. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem; S. 4.

20 Richtlinie 2004/83/EG.

21 Richtlinie 2011/95/EU.

22 Richtlinie 2011/95/EU.

23 Richtlinie 2011/95/EU.

24 Münch, Berthold (2013): Zur Änderung der Qualifikationsrichtlinie, S. 7 ff.

25 Richtlinie 2005/85/EG.

26 Richtlinie 2013/32/EU.

27 Hierzu stellte der EuGH in Entscheidung aus dem Jahr 2020 fest: »Der Umstand, dass ein Antragsteller auf internationalen Schutz das Gebiet eines Drittstaats durchreist hat, kann aber für sich genommen nicht die Annahme begründen, dass er vernünftigerweise in dieses Land zurückkehren könnte « (EuGH 2020, Rn. 47).

28 Richtlinie 2013/32/EU.

29 Vilmar; Franziska (2013): Die Neufassung der Asylverfahrensrichtlinie; S. 21 ff.

30 Richtlinie 2003/9/EG.

31 Richtlinie 2013/33/EU.

32 Richtlinie 2013/33/EU.

33 Hager, Nina Friderike (2013): Zur Neufassung der Aufnahmerichtlinie. Eine Frage des Details?; S. 13 ff.

34 Verordnung (EG) Nr. 343/2003.

35 Verordnung (EU) Nr. 604/2013.

36 Die »Dublin-III-Verordnung« wird neben den EU-Staaten auch von der Schweiz, Norwegen, Liechtenstein und Island angewendet.

37 Verordnung (EU) Nr. 604/2013.

38 Pelzer, Marei (2013): Die Dublin-III-Verordnung. Die neue EU-Verordnung zur Bestimmung des zuständigen Asylstaats; S. 29 ff.

39 Verordnung (EG) Nr. 2725/2000.

40 Verordnung (EU) Nr. 603/2013.

41 Verordnung (EU) Nr. 603/2013.

42 Habbe, Heiko (2013): Die neue EURODAC-Verordnung. Zankapfel der Harmonisierung des EU-Asylrechts; S. 39 ff.

43 Art. 78 AEUV.

44 Hruschka, Constantin (2016): Dublin ist tot! – Lang lebe Dublin! Anmerkungen zum Kommissionsvorschlag vom 4. Mai 2016.

45 Bendel, Petra (2017): EU-Flüchtlingspolitik in der Krise: Blockaden, Entscheidungen, Lösungen.

46 Kasparek, Bernd / Speer, Marc (2015): Of Hope. Ungarn und der lange Sommer der Migration.

47 Europäische Kommission (2020): Ein Neuanfang in der Migrationspolitik. Aufbau von Vertrauen und Schaffung eines neuen Gleichgewichts zwischen Verantwortung und Solidarität.