von Marc Speer
Seit Beginn des Jahres 2018 lässt sich ein massiver Anstieg der Flüchtlingszahlen in Bosnien ausmachen, weshalb bordermontioring.eu im September 2018 Sarajevo und die bosnisch-kroatische Grenzregion besuchte, um ein Bild von der Situation vor Ort zu bekommen. Die Eindrücke dieser Reise und die mittlerweile zahlreichen NGO- und Presseberichte stellen die Basis für die folgenden Ausführungen zur neuen Balkanroute dar, in deren Zentrum Bosnien steht und die mittlerweile in Triest bzw. Mailand endet. Ende Mai 2018 – und damit kurz bevor Horst Seehofer damit begann, sich selbst zu demontieren – wurde die neue Balkanroute in Österreich zum großen Thema: Heinz-Christian Strache wollte notfalls „mit dem Innen- und Verteidigungsministerium die Grenze dichtmachen“, was sicherlich auch zum Enstehen der Debatte um Grenzschließungen in Deutschland beitrug. Im Dezember 2018 wurden die massenhaft stattfindenden Rückführungen („Push-Backs“) von Kroatien nach Bosnien in zahlreichen Medien thematisiert, nachdem eine Nichtregierungsorganisation heimlich aufgenommenes Bildmaterial veröffentlicht hatte.
Die neue Route über Bosnien ist vor allem eine Konsequenz daraus, dass es mittlerweile nahezu unmöglich ist, aus Serbien über die „Grüne Grenze“ nach Ungarn oder Kroatien zu gelangen. Im Hinblick auf Ungarn wird dies einerseits durch einen 175-Kilometer langen Zaun erschwert, der seit 2015 kontinuierlich ausgebaut wurde. Andererseits patrouillieren an der Grenze tausende Polizist_innen, Soldat_innen und sogenannte „Border Hunter“ (eine Art Hilfspolizei), die alle Menschen ohne Aufenthaltsrecht in Ungarn umgehend zurück nach Serbien „eskortieren“ – so die offizielle Terminologie. Und zwar ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen oder irgendwelche Rechtsmittel einzulegen. Beides wurde sogar ganz offiziell ausgeschlossen. In vielen Fällen geht die Rückschiebungen überdies mit massiver Gewaltanwendung der ungarischen Beamt_innen einher, was unlängst auch vom „European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment“ (CPT) kritisiert wurde.
An der serbisch-kroatischen Grenze gibt es zwar keinen Zaun, aber auch hier sind Push-Backs, Körperverletzungen, der Diebstahl von Wertsachen und vor allem die Zerstörung von Mobiltelefonen an der Tagesordnung, was seit 2016 von etlichen Organisationen dokumentiert wurde.
Diese Brutalisierung und Entrechtlichung des Europäischen Grenzregimes führte dazu, dass es – zumindest nicht ohne die Unterstützung professioneller und dementsprechend teurer Schleuser_innen – kaum noch möglich ist, über die alten, informellen Wege nach Westeuropa zu gelangen, was zur Entstehung der neuen Route über Bosnien maßgeblich beitrug.
Rasanter Anstieg der Ankünfte seit Jahresbeginn
Laut Angaben des UNHCR wurden in Bosnien im Januar 2018 gerade einmal 237 neu ankommende Geflüchtete registriert. Im April waren es bereits 1.801, im Oktober sogar 5.057. Insgesamt wurden bis Ende November 23.132 Personen statistisch erfasst – im Jahr 2017 waren es im selben Zeitraum lediglich 540. Die überwiegende Mehrheit – insgesamt 21.320 Menschen – äußersten den Wunsch, Asyl in Bosnien beantragen zu wollen („intention to seek asylum“). Tatsächlich als Asylsuchende wurden jedoch nur 1.356 Personen registriert, was unter anderem eine Wohnanschrift voraussetzt. Für November 2018 wird die Zahl der tatsächlich noch in Bosnien aufhältigen Geflüchteten auf 4.500 bis 5.000 geschätzt.
Die bosnischen Behörden geben für den Stichtag 8. November 2018 an, dass etwa ein Drittel der Geflüchteten, die sich zu diesem Zeitpunkt in Bosnien aufhielten, 85 Prozent aus Pakistan, dem Iran, Syrien, Afghanistan und dem Irak stammen. Ein Drittel waren unbegleitete Minderjährige bzw. Familien mit Kindern.
Von Sarajevo an die kroatische Grenze
Nach Bosnien kommen die Geflüchteten entweder aus Serbien oder aus Griechenland über Montenegro und Albanien. Über die „Grüne Grenzen“ nach Bosnien und dann mit offiziellen Verkehrsmitteln weiter nach Sarajevo zu gelangen, scheint – zumindest bisher – kein größeres Problem zu sein.
Das serbische und das bosnische Staatsgebiet wird auf weiter Strecke durch den Fluss Drina abgegrenzt, der zu Beginn des Jahres zumeist einfach zu Fuß auf einer Eisenbahnbrücke und später oft mit tatkräftiger Unterstützung durch Einheimische, die sich so ein paar Euro dazuverdienen, überquert wurde. Weiterhin spielt eine Rolle, dass Serbien kaum ein Interesse daran hat, Geflüchtete an der Ausreise zu hindern und auch, dass es auf bosnischer Seite die Republika Srpska ist, die an Serbien angrenzt und welche hauptsächlich von Serb_innen bewohnt wird. Politisch bedingt führt dies dazu, dass die Grenze kaum kontrolliert wird.
Auch drei Eritreer, mit denen ich mich in Sarajevo unterhielt, berichteten davon, dass die informelle Einreise nach Serbien kein größeres Problem gewesen sei und betonten die Schönheit der Landschaft, in der sie dabei unterwegs waren. Angesprochen hatte ich die Drei auf einer kleinen Grünfläche vor dem Bahnhof, von der auch der zentrale Busbahnhof nicht weit entfernt ist. Dieser Mobilitätsknotenpunkt war zumindest Ende September der erste Anlaufpunkt in Bosnien und hier hielten sich – je nach Tageszeit – immer um die 50 bis 100 Flüchtlinge auf. Wie mir von meinen eritreischen Gesprächspartnern erzählt wurde, planten sie, die Nacht vor dem Bahnhof zu verbringen und am folgenden Tag die Behörden aufzusuchen.
Dort wollten sie den Wunsch in Bosnien Asyl zu beantragen zu Protokoll geben, um ein Papier zu erhalten, dass ihnen einen vierzehntägigen legalen Aufenthalt in Bosnien gestattet. Dabei handelt es sich, wie bereist erwähnt, jedoch nicht um einen regulären Asylantrag, sondern lediglich um eine Art Absichtserklärung, dies in Bosnien tun zu wollen, wobei die Differenz beachtlich ist.
Vor dem Bahnhof in Sarajevo / September 2018
Das 14-Tage-Papier brachte aus Sicht der Betroffenen den großen Vorteil mit sich, dass mit ihm in aller Regel ungehindert weiter nach Nordbosnien – direkt an die Grenze zu Kroatien – gereist werden konnte. Dies änderte sich jedoch einige Monate nach meiner Reise nach Bosnien. Mittlerweile wird die Mobilität innerhalb Bosniens als Reaktion auf migrantische Proteste, auf die im Folgenden noch eingegangen werden wird, zunehmend erschwert. Davor verloren die allermeisten nicht allzu viel Zeit in Sarajevo. Der Bus in die Grenzstadt Bihać verkehrt mehrmals täglich und ein Ticket kostet gerade einmal 20 EUR.
Auch ich besteige einen der Flixbusse und kurz bevor dieser sein Ziel erreicht wird – als unser Bus von der Polizei gestoppt wird – klar, weshalb die Registrierungspapiere aus Sarajevo so wichtig sind. Zwei durchaus freundliche Polizisten besteigen unseren Bus und erklären gleich zu Anfang, dass nur diejenigen, die die dafür notwendigen Papier besitzen weiterfahren dürfen, die anderen hingegen den Bus verlassen müssten und erst einige Stunden später weiterfahren dürfen. Es trifft zwei meiner Mitreisenden. Die allermeisten verfügen jedoch über die geforderten Registrierungspapiere und so fährt der Bus nach kurzer Pause weiter.
Die Ruine von Bihać und der Jungle von Velika Kladuša
Ende September lebten am Stadtrand der 60.000-Einwohner_innen-Stadt Bihać etwa 600 Geflüchtete in einer halb-offiziellen improvisierten Flüchtlingsunterkunft: Ein Rohbau ohne Fenster, Türen und Treppengeländer – ein provisorisches Dach wurde zum damaligen Zeitpunkt gerade mit Mitteln der IOM errichtet. Das Gelände ist von einem weitläufigen Park umgeben, in dem zusätzlich noch mehrere hundert Menschen kampierten. Unter wessen formeller Verantwortung die Einrichtung steht, wurde bei meinem Besuch nicht ganz klar und das Szenario vor Ort wirkte auch eher so, als ob die Bewohner_innen vor allem sich selbst überlassen werden. Zumindest war dies mein flüchtiger Einruck, bevor mich ein vereinzelter, jugendlich wirkender „Security“ vom Gelände verscheuchte. Wenige Wochen zuvor war es noch ein Rohbau mitten im Stadtzentrum gewesen, der als provisorische Behausung diente, dann jedoch mit Gittern unzugänglich gemacht wurde.
Neues Lager am Stadtrand von Bihać / September 2018
Der zweite aus migrantischer Sicht bedeutsame Ort an der bosnisch-kroatischen Grenze ist Velika Kladuša, wo etwa 45.000 Menschen leben. Der Bürgermeister von Velika Kladušaka Kladuša, Fikret Abdić, ist ein zwielichtiger Geschäftsmann, der sich während des Krieges von der politischen Führung in Sarajevo lossagte und als verurteilter Kriegsverbrecher zehn Jahre in einem kroatischen Gefängnis verbrachte. Am Rande von Velika Kladuša bildete sich im Frühjahr 2018 ein Jungle – wie ihn die Migrierenden selbst nennen – in dem mehrere hundert Menschen in selbstgezimmerten Verschlägen hausten. Absurderweise taten sie dies, obwohl im Industriegebiet von Velika Kladuša 50 weiße Großzelte aufgestellt worden waren, die jedoch nie in Betrieb genommen wurden, weil sich einerseits die Stadtverwaltung dagegen sträubte und es andererseits wohl auch in Brüssel Bedenken gegen ein offizielles Camp direkt an der EU-Außengrenze gab. Im Jungle berichtete ein Iraner folgendes:
Ich lebe hier seit vier Monaten mit meiner Frau und meinem Sohn. Wir haben bereits viermal versucht, über die Grenze zu kommen. Einmal haben wir es sogar bis nach Slowenien geschafft. Wir waren sechs Tage unterwegs – und wurden dann in zwei Stunden mit dem Auto zurück hierher gebracht. Jetzt haben wir eine Vereinbarung mit einem Schleuser: Wir müssen über die Grenze laufen und werden dann mit einem Auto nach Triest gebracht.
Versorgt wurden die im Jungle lebenden Menschen nur rudimentär durch das Rote Kreuz und die IOM, die vor Ort eine mobile Essensausgabe organisierten. Weiterhin existierten einige Dixi-Klos, sowie Duschen, die ehrenamtliche Helfer_innen aus dem Ausland in der Nähe aufgestellt hatten. Eine bemerkenswert große Unterstützung gab es darüber hinaus durch die lokale Bevölkerung, die mehrheitlich muslimischen Glaubens ist und von der ein großer Teil während des Krieges selbst flüchten musste.
Am 5. Dezember 2018 wurden die letzten noch im Jungle verbliebenen Menschen gezwungen, diesen zu verlassen und die noch vorhandenen Behausungen wurden in Brand gesteckt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich seitdem keine Migrant_innen mehr in Velika Kladuša aufhalten: Bereits vor der Räumung des Jungles lebten viele in angemietetem Wohnraum oder in besetzten Häusern.
Der Jungle in Velika Kladuša / September 2018
Proteste
Ende Oktober 2018 kam es zu tagelangen Protesten an der bosnisch-kroatischen Grenze, die der Blog Yalla Yalla Europe ausführlich dokumentierte:
Nachdem viele Geflüchtete über Nacht an der Grenze geblieben waren, gingen die Proteste am Mittwoch (24.10.) am Grenzübergang Maljevac nahe Velika Kladuša weiter. Dort forderten hunderte Flüchtlinge die Öffnung der Grenzen […]. Der Versuch mehrerer hundert Geflüchteter, nach Kroatien zu gelangen, wurde von der bosnischen Polizei gewaltsam unterbunden. Dabei wurden mehrere Flüchtlinge verletzt. Gleichzeitig sperrte die kroatische Polizei, die für ihre Gewalt gegenüber Geflüchteten bekannt ist, ihrerseits die Grenze ab. In Bihać wiederum ließ die bosnische Polizei zumindest am Mittwoch keine weiteren Geflüchteten in den Kanton Una Sana. Wer in Bussen oder im Zug Richtung Bihać saß, wurde mit Verweis auf die fehlenden Unterkünfte Richtung Sarajevo zurückgeschickt […]. In der Zwischenzeit trafen am Mittwochabend Polizeieinheiten am Bahnhof Sarajevo ein, um rund 100 Geflüchtete, die in der Umgebung campierten, in das Hadžići Camp zu bringen […]. Der Transfer erfolgte auf freiwilliger Basis, aber mit wenig Feingefühl und praktisch keiner Vorbereitung […]. Für die tausenden Flüchtlinge, die bereits an der bosnisch-kroatischen Grenze, vor allem in Bihać und Velika Kladuša, ausharren, zeichnet sich dagegen noch keine Lösung ab. Trotz des nahenden Winters gibt es für diese Schutzsuchenden – mit Ausnahme des kleinen „Hotel Sedra“, einer Einrichtung für Familien – keine angemessenen und menschenwürdigen Unterkünfte.
Am Donnerstagmorgen (25.10.) setzten Geflüchtete ihren Protest an der Grenze, wiederum am Grenzübergang Maljevac, fort. Auch wenn der Aktion an der Grenze bislang kein Erfolg beschieden war, werden die Geflüchteten für die Öffentlichkeit innerhalb der EU noch einmal sichtbarer. Die Folgerung ist klar: Die Europäische Union darf sich nicht länger wegducken. Sie muss die Schutzsuchenden aufnehmen, weil der bosnische Staat ihre Rechte und ihre Sicherheit nicht gewährleisten kann. Zugleich müssen die Mitgliedsstaaten dafür Sorge tragen, dass die Flüchtlinge ein faires Asylverfahren durchlaufen können.
Am bosnisch-kroatischen Grenzübergang Maljevac geht der Protest auch am Freitag (26.10.) weiter. Etwa 300-500 Schutzsuchende, unter ihnen viele Familien mit Kindern, fordern wie bisher die Öffnung der Grenzen und das Recht einen Asylantrag in der Europäischen Union stellen zu können […]. In Gesprächen mit Aktivist*innen von NoNameKitchen betonen die Geflüchteten, friedlich zu sein. An der Grenze errichten sie provisorische Unterstände und Toiletten. Eine Unterstützung von NGOs erhalten sie derzeit nicht, vor Ort gibt es derzeit keine Essensausgabe. Geflüchtete versorgen sich selbst und bringen Wasser und Nahrungsmittel aus dem Kladuša Camp an den Grenzpunkt. Die Polizei verhindert weiterhin, dass Geflüchtete aus Richtung Sarajevo, Mostar oder Bihać nach Velika Kladuša fahren und sich dem Protest anschließen können […].
An der Grenze zwischen Bosnien und Kroatien geht der Protest, der insbesondere von kurdischen Flüchtlingen und Iraner*innen getragen wird, auch am Samstag (27.10.) weiter. Mit zugeklebten Mündern blockieren Refugees die Straße vor dem Grenzpunkt und fordern die Öffnung der EU-Grenze. Angesichts der Bedingungen in Bosnien und der fehlenden Perspektive mischen sich Verzweiflung und Entschlossenheit.
Ausbau der Infrastruktur
Am 30. Oktober wurde das Protestcamp am Grenzübergang von der Polizei geräumt und die Menschen in eine Lagerhalle in Velika Kladuša (Miral) gebracht, die ein lokaler Unternehmer kurzfristig zur Verfügung gestellt hatte. Mittlerweile wird die Unterkunft von der IOM verwaltet, die zusätzlich ein Zelt errichtete, was die Kapazität von 300 auf 700 Plätze erhöhte.
Bereits im Juni 2018 wurden die großen NGOs wie Ärzte ohne Grenzen, der dänische Flüchtlingsrat, Save the Children, World Vision, etc. in Bosnien aktiv und die „Generaldirektion Humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz der Europäischen Kommission“ (ECHO) stellte 1,5 Millionen Euro Soforthilfe zur Verfügung. Insgesamt stellte die EU bis zum Dezember 2018 9,2 Millionen Euro zur Verfügung
Es verwundert daher kaum, dass die projektabhängige IOM zum bedeutsamsten Akteur im Hinblick auf die Unterbringung von Geflüchteten in Bosnien wurde. Gegenwärtig renoviert die IOM den bereits erwähnten Rohbau in Bihać (Borići), der nach Abschluss der Arbeiten bis zu 580 Personen – hauptsächlich Familien mit Kindern – unterbringen soll. Bereits jetzt betreibt die IOM mit Unterstützung des UNHCR ein Camp für Familien (Sedra), dass eine Kapazität von 420 Plätzen hat. Weiterhin eröffnete die IOM im Oktober 2018 ein Lager in der Nähe von Sarajevo (Ušivak) mit einer Kapazität von 820 Personen, das von der „Entwicklungsbank des Europarates“ (CEB) bezuschusst wurde. Eine weitere Unterkunft, die bis zu 1.800 Menschen aufnehmen kann, wird von der IOM in Bihać (Bira) betrieben. Zumindest offiziell werden alle diese Zentren in Zusammenarbeit mit den zuständigen bosnischen Behörden verwaltet, die bereits seit längerem ein „Asylum Centre“ in der Nähe von Sarajevo (Trnovo) mit 154 Plätzen stellt. Ein weiteres „Refugee Reception Centre“ existiert bei Mostar (Salakova) und bietet bis zu 220 Personen Unterkunft.
Push-Backs
Seit 2016 wurden auf der Website borderviolence.eu hunderte Fälle von Push-Backs aus Ungarn bzw. Kroatien nach Serbien und seit Existenz der neuen Balkanroute aus Kroatien nach Bosnien dokumentiert. Auch die mittlerweile zahlreich erschienenen Presse- und NGO-Berichte (u.a.: HRW, UNHCR, Are You Syrious?, The Guardian, ARD, BalkanInsight, taz) belegen zweifelsfrei, dass Push-Backs an der bosnisch-kroatischen Grenze keineswegs eine Ausnahmeerscheinung darstellen, sondern es sich hierbei um eingespielte, regelmäßige stattfindende Vorgänge handelt. Und dies obwohl derartiges staatliches Handeln zweifelsfrei einen Verstoß gegen elementare Rechte – wie das Recht einen Asylantrag zustellen oder Rechtsmittel gegen eine behördliche Maßnahme einzulegen – darstellt, die nicht nur im internationalen, sondern auch im EU-Recht garantiert werden und einen hohen Stellenwert besitzen.
Überdies lässt sich seit Juni 2018 beobachten, dass Kettenabschiebungen von Slowenien nach Kroatien und von dort weiter nach Bosnien zur Regel wurden. Dabei scheint es so zu sein, dass die Rückführungen aus Slowenien nach Kroatien üblicherweise einem formellen Prozedere folgen und mit weitaus weniger Gewalt einhergehen, als jene aus Kroatien nach Bosnien. Wer sich in Bosnien mit festsitzenden Migrierenden unterhält, bekommt in nahezu jedem Gespräch Geschichten aus dem „Game“ zu hören: „Going to the Game“ meint in der migrantischen Terminologie den Versuch, zumeinst in der Nacht in einer größeren oder kleineren Gruppe über die „Grüne Grenze“ zu kommen, was zumeist auch gelingt. Allerdings werden die meisten bereits kurz nach dem informellen Grenzübertritt von kroatischen Polizist_innen verhaftet, welche die bergige Region um Bihać und Velika Kladušanter unter anderem mit Wärmebildkameras überwachen. Daran anschließend werden die Aufgegriffenen üblicherweise innerhalb kürzester Zeit informell nach Bosnien zurückgeschickt und nicht selten vorher noch körperlich misshandelt. Auch die Zerstörung von Mobiltelefonen und der Diebstahl von Geld und Wertgegenständen ist gängige Praxis.
Obwohl bestens dokumentiert, bestritt die kroatische Regierung über lange Zeit hinweg einfach pauschal, dass es überhaupt zur Anwendung von Gewalt kommen würde. So heißt es etwa in einem Antwortschreiben der kroatischen Regierung auf einen Brief der Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović:
All reports filed by non-governmental and other organisations which we have received so far on the coercive means begin allegedly applied to migrants by police officers have been examined according to our capacities given the fact that generally there is not enough concrete data for criminal investigation. Up to this point, no cases of coercive means being applied to migrants by police officers have been confirmed. Likewise, the allegations that police officers have committed acts of theft against third-country nationals have not been confirmed either. Since migrants were deterred from entering the Republic of Croatia by police officers or returned to the country from which they illegally entered the Republic of Croatia upon the application of another prescribed procedure, while keeping in mind that those countries are safe third countries or EU Member States in which they can exercise their right to international protection, they accuse Croatian police officers of violence, hoping that such accusations will help them in their attempt to re-enter the Republic of Croatia and continue their journey towards their countries of final destination.
Unter wachsenden Druck geriet die kroatische Regierung, als der Guardian im November 2018 erstmalig ein Video veröffentlichte, auf dem Schmerzensschreie aus dem Dunkeln zu hören sind und wenig später ein blutender, sichtlich geschockter Migrant zu sehen ist.
Im Dezember 2018 veröffentlichte „Border Violence Monitoring“ dann umfangreiche Aufnahmen, die eine versteckt angebrachte Kamera über Tage hinweg an einem Feldweg zwischen Bosnien und Kroatien aufgezeichnet hatte. Das Material dokumentiert insgesamt 54 Fälle von Push-Backs, die mindestens 350 Menschen betrafen, darunter auch Kleinkinder. Neben etlichen internationalen Medien wurden die Videos auch von der Tagesschau aufgegriffen.
Die kroatische Regierung rechtfertigte sich daraufhin damit, dass es sich gar nicht um Abschiebungen, sondern um Einreiseverweigerungen handeln würde, die nach Artikel 13 des Schengener Grenzkodex zulässig seien. Wie plump diese Erklärung jenseits des Faktums ist, dass sich die betroffenen Menschen ganz offensichtlich bereits auf kroatischem Territorium befunden haben (anderenfalls hätten sich die kroatischen Beamten rechtswidrig auf bosnischem Territorium befunden), wird bei einem genaueren Blick auf den von Kroatien angeführten Artikel deutlich, in dem es heißt:
(2) Die Einreiseverweigerung kann nur mittels einer begründeten Entscheidung unter genauer Angabe der Gründe für die Einreiseverweigerung erfolgen. Die Entscheidung wird von einer nach nationalem Recht zuständigen Behörde erlassen […].
(3) Personen, denen die Einreise verweigert wird, steht ein Rechtsmittel zu. Die Verfahren für die Einlegung des Rechtsmittels bestimmen sich nach nationalem Recht. Dem Drittstaatsangehörigen werden auch schriftliche Angaben zu Kontaktstellen gemacht, die ihn über eine rechtliche Vertretung unterrichten können, die entsprechend dem nationalen Recht in seinem Namen vorgehen kann.
Artikel 13 des Schengener Grenzkodex ist also gar nicht einschlägig, da er nur auf Personen anwendbar ist, die an einem offiziellen Grenzübergang einreisen wollen und selbst wenn er es wäre, hätte Kroatien zumindest die in Artikel 13 verbrieften Rechte der von einer Einreiseverweigerung betroffenen Personen missachtet. Darüber hinaus verstößt die Kollektivausweisung von Ausländern gegen Artikel 4 des Protokolls Nr. 4 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die auch von Kroatien unterzeichnet wurde. Zudem kommt ein Verstoß gegen Artikel 3 (Verbot der Folter), Artikel 5 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und Artikel 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) in Betracht.
Fazit
Bei näherer Betrachtung wird die Rationalität hinter der Gewaltanwendung deutlich: Wer sich zusammengeschlagen und ohne Smartphone in einem bosnischen Wald wiederfindet, versucht es sicherlich nicht gleich ein paar Kilometer weiter noch einmal, sondern benötigt zwangsläufig eine gewisse Zeit, um sich physisch und psychisch zu regenerieren. Ganz abgesehen vom sicherlich ebenfalls einkalkulierten Abschreckungseffekt und der Zerstörung eventueller Beweismittel durch das Zerschlagen von Mobiltelefonen.
Das brutale und bisher ungeahndete Vorgehen der kroatischen Behörden ist mehr als die Summe „bedauerlicher Einzelfälle“. Es wird politisch gedeckt und es dürfte eine Entscheidung „von ganz oben sein“, informelle Migrant_innen notfalls auch mit völkerrechtswidrigen Methoden aufzuhalten. Dies ist mittlerweile nicht nur in Kroatien opportun, sondern auch an anderen Binnen- und Außengrenzen Europas, wie etwa an der türkisch-griechischen Landgrenze. Neu ist die systematische und recht offen praktizierte Brutalität, die im Falle von Kroatien durch zwei spezifische Faktoren noch begünstigt wird: Erstens, der angestrebte Schengenbeitritt des Landes, der ganz oben auf der politischen Agenda steht und eine Nachkriegssituation, in der Grenzschutzbeamte immer noch als „heldenhafte Verteidiger des Vaterlandes“ gesehen werden, deren Vorgehen im öffentlichen Diskurs kaum kritisierbar ist.
Bereits jetzt lässt sich erkennen, wie auch in Bosnien – und dies ohne Zweifel aufgrund von Druck aus Brüssel – zunehmend versucht wird, migrantische Mobilität zu fixieren und zwar einerseits über die Behinderung der freien Bewegung im Landesinneren, andererseits über die Errichtung von Infrastruktur. Dass für letzteres die IOM eine herausragende Rolle spielt, lässt sich wiederum auf die Schwäche des bosnischen Staates und seine mangelhafte Handlungsfähigkeit zurückführen.
Dabei sollte jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass Bosnien eine Sackgasse darstellt. Dies lässt sich allein schon aus der Statistik ableiten: Für November 2018 schätzt der UNHCR die Zahl der in Bosnien aufhältigen Geflüchteten auf 4.500 bis 5.000, obwohl seit Anfang des Jahres weit über 20.000 Ankünfte registriert wurden. Auch wenn sich ein kleiner Teil dieser Differenz durch Rückreisen nach Serbien erklären lässt, so spricht dennoch vieles dafür, dass ein relativ großer Anteil beim x-ten Versuch eben doch erfolgreich ist. Und zwar in zunehmenden Maße mit professioneller Untersützung durch Schleuser_innen, wofür sich unter den in Bosnien festhängenden Migrierenden der Begriff „Taxi Game“ etabliert hat, für das mit dem Zielpunkt Norditalien momentan etwa 2.000 bis 3.000 EUR veranschlagt werden.
Die Geschichte der Balkanroute, die sich – wenn auch weitestgehend unbemerkt – bereits lange vor dem Sommer der Migration etablierte, gibt begründeten Anlass für die Vermutung, dass wir bald gänzlich neue Routen und Strategien zur Überwindung der Balkanregion beobachten werden. Es wäre jedoch geradezu vermessen – auch dies lehrt die Geschichte der informellen mirgrantischen Mobilität in der Region – diesbezüglich Prognosen anstellen zu wollen. Lassen wir uns überraschen!