Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projekts Moving Europe. Aktuell sind wir vor Ort in Belgrad, Sofia, Idomeni und Athen.
Am Sonntag, den 21. Februar 2016 schloss Mazedonien die Grenze für Geflüchtete, die aus Afghanistan stammen. Dies stellt gewissermaßen die nächste „Verengung“ der Balkanroute dar, die schon lange erwartet wurde, nachdem in Idomeni – wo sich der Grenzübergang von Griechenland nach Mazedonien befindet – bereits seit November des letzten Jahres nur noch SyrerInnen, IrakerInnen und AfghanInnen passieren durften. Bereits diese erste „Verengung“ führte zu massiven Protesten, die wir ausführlich dokumentierten.
Mazedonien erklärte umgehend, dass die jüngste Grenzschließung für AfghanInnen lediglich eine Reaktion auf eine derartige Praxis Serbiens sei. Dazu wiederum äußerte sich der serbische Innenminister wie folgt:
Das ist nicht eine Frage von Serbiens Haltung. Wenn Österreich bereit ist, die Afghanen zu nehmen, werde ich persönlich dafür sorgen, dass sie alle in Busse kommen und direkt nach Wien gebracht werden. Aber wenn Österreich sagt, wir nehmen sie nicht, warum sollte Serbien das dann tun […]? Die Afghanen wurden von Kroatien zu uns zurückgeschickt. Als uns klar war, dass sie nicht nach Kroatien können, haben wir aufgehört, sie aus Mazedonien anzunehmen.
Er meinte damit zweierlei: Erstens die Entscheidung Österreichs, nur noch 80 Asylgesuche täglich entgegen zunehmen und maximal nur noch 3.200 Geflüchtete pro Tag nach Deutschland durchreisen zu lassen. Zweitens die Rückführung von 217 Geflüchteten aus Slowenien nach Kroatien und weiter nach Serbien Ende letzter Woche. Diese Gruppe begann nach ihrer Rückführung in Serbien umgehend mit Protesten und besetzte die Gleise in Šid, einer Kleinstadt an der serbisch-kroatischen Grenze, von wo aus in den letzten Monaten mehrere Züge täglich im Rahmen des „offiziellen Korridors“ auf der Balkanroute starteten.
All dies erscheint nicht nur auf den ersten Blick konfus, eine klare Linie der Nationalstaaten unter der Ägide der EU ist ganz offensichtlich nicht existent, vielmehr gibt es temporäre Koalitionen und offene Affronts zwischen den Nationalstaaten. Wie es zu der Entscheidung kam, dass nur noch SyrerInnen und IrakerInnen die Weiterreise erlaubt wird, die ihre Nationalität zudem durch einen Reisepass oder eine ID beweisen können und wo der Domino Effekt begann, bleibt wie bereits im November 2015 weitestgehend unklar. In den ersten Tagen des neuen Verfahrens beschuldigten sich die Nationalstaaten gegenseitig und behaupteten, sie würden lediglich auf Restriktionen reagieren, die andere getroffen hätten.
Eine mögliche Erklärung könnte ein Treffen am 18. Februar in Zagreb sein, an dem die Polizeichefs aus Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien teilnahmen. In dem aus diesem Treffen – zu dem Griechenland explizit nicht eingeladen wurde – resultierenden „Joint Statement“ heißt es unter Punkt 6:
On humanitarian grounds, the entry of third country nationals may be authorised to those persons who do not fulfil the conditions referred to in point 5 of this Statement but who are arriving from war-torn areas and are in need of international protection (for example Syria, Iraq), provided that they can prove their nationality by language proficiency, copies or scans of other identification documents), and are in possession of the registration form issued by Greek authorities).
AfghanInnen werden ausdrücklich nicht erwähnt. Mazedonien hat diese Auflistung eventuell nicht als Beispiele, sondern als vollständige Liste der von Krieg betroffenen Staaten interpretiert und daraus Schlüsse für die Schutzberechtigung gezogen.
Serbien und Bulgarien:
Die Entscheidung, nur noch SyrerInnen und IrakerInnen mit dem neuen, ausschließlich in Gevgelija (Südmazedonien) ausgestellten „Transitpapier“ passieren zu lassen führte dazu, dass nun noch mehr Menschen in Serbien festhängen. Nicht nur in Belgrad, sondern auch in dem Camp am Bahnhof in Šid, wo aktuell etwa 1000 Leute untergebracht sind. Weitere 250 befinden sich gegenwärtig in einem in der Nähe gelegenen Camp in Principovac, das direkt an einem offiziellen Grenzübergang zu Kroatien liegt. Bei einem Besuch in Principovac am 21. Februar wurde uns davon berichtet, dass die serbischen Behörden kurz zuvor mehrere Busse zu dem Camp in Šid brachten und diese unter Anwendung von Zwang „füllten“. Die Busse fuhren anschließend zu unterschiedlichen Stellen an der serbischen-ungarischen Grenze und die Insassen wurden aufgefordert, über den Zaun hinweg nach Ungarn einzureisen. Von diesem Vorfall berichtete auch der Bayerische Rundfunk, der zudem ein Handy-Video veröffentlichte. Viele der unfreiwillig an die ungarische Grenze Gebrachten reisten wenig später mit Taxis zurück nach Šid und begannen von dort aus dann auf der Autobahn Richtung Kroatien zu laufen, wurden schlussendlich jedoch von der Autobahn mit Bussen nach Principovac gebracht.
Weitere 300 IrakerInnen und SyrerInnen wurden von Šid aus zurück an die serbisch-mazedonische Grenze gebracht, um sich in Mazedonien die neuen „Transitpapiere“ ausstellen zu lassen, ohne die sie Kroatien nicht einreisen lässt. Ob dies unter Zwang oder freiwillig erfolgte, können wir nicht beurteilen. Anscheinend verweigerte die mazedonischen Behörden jedoch die Wiederaufnahme. In Tabanovce, am mazedonisch-serbischen Grenzübergang stecken zudem seit Tagen 600 AfghanInnen fest, die aufgrund der neuen Regelungen nicht weiterreisen können.
Weiterhin erreichten uns Informationen, dass Serbien nun auch die Einreise aus Bulgarien beschränkt bzw. verhindert, wohl um zu verhindern, dass sich die Balkanroute umgehend auf Bulgarien verlagert: Im serbischen Dimitrovgrad – wo in der Vergangenheit zwischen 100 und 200 Personen täglich ankamen – werden die neuen „Transitpapiere“ grundsätzlich nicht ausgestellt. Alle SyrerInnen und IrakerInnen werden hier nun aufgefordert, sich eines der neuen „Transitpapiere“ zu organisieren, das allerdings ausschließlich an der griechisch-mazedonischen Grenze ausgestellt wird. Zusätzlich gilt nun: Nur wer unter 14 Jahren oder über 60 Jahren ist, darf Asyl in Serbien beantragen. Wer zwischen 14 und 60 Jahren alt ist, wird aufgefordert, Serbien innerhalb von fünf Tagen zu verlassen bzw. direkt zurück nach Bulgarien abgeschoben. Uns liegen Informationen von einem Fall vor, bei dem eine Familie zerrissen wurde: Der Ehemann wurde eingesperrt, die Ehefrau mit dem acht Monate alten Baby durfte bleiben. Persönlich sprachen wir mit zwei Afghanen in Sofia, die uns zu verstehen gaben, dass sie vor kurzem in Handschellen von Serbien nach Bulgarien zurückgebracht wurden.
Grundsätzlich ist die Situation in Serbien von zunehmender Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung geprägt: Diejenigen, die nicht über die neuen „Transitpapiere“ verfügen (die ausschließlich in Mazedonien ausgestellt werden) hängen hier nun ebenso fest wie diejenigen, die nicht aus Syrien oder dem Irak stammen. Es gibt für sie keine Möglichkeit, sich wieder in den „offiziellen Korridor“ einzureihen. Es kann daher kaum überraschen, dass die Zahl der irregulären Grenzübertritte nach Ungarn – entweder über den Zaun oder den „Umweg“ Rumänien, wo sich noch kein Zaun befindet – in den letzten Tagen stark angestiegen ist.
Idomeni:
Am 21. Februar brachen mehrere tausend Menschen verschiedener Nationalitäten vom neu eingerichteten Camp an der Tankstelle in Polykastro auf, um in Richtung des Grenzübergangs in Idomeni zu laufen. Um die 20 Kilometer lange Strecke zurück zu legen braucht es etwa fünf Stunden. Der spontane Marsch, der in den letzten Wochen bereits mehrere Male stattfand, zeigt wieder einmal, dass die Menschen schlichtweg nicht bereit sind, sich den Entscheidungen der Bürokratie einfach zu unterwerfen. Die Strategie, ein ähnliches Szenario wie im November/Dezember 2015 in Idomeni zu verhindern, ging nicht auf. Die Menschen, die nicht (mehr) in Bussen zur Grenze gebracht werden, haben andere Wege gefunden, dort hin zu gelangen.
Der Marsch, als kollektive Aktion des sozialen Ungehorsams hatte zur Folge, dass das Camp in Idomeni gegenwärtig völlig überfüllt ist und die Situation vor Ort relativ chaotisch ist. Trotz des Durcheinanders gelang es dem Camp Management dennoch, zwei größere Gruppen von AfghanInnen in einem abgelegeneren Teil des Geländes zu separieren. Am folgenden Tag brachen Konflikte aus, als die abgespaltenen AfghanInnen verlangten, in das eigentliche Camp bzw. die Transitzone gelassen zu werden. Die AfghanInnen zeigten ihre Entschlossenheit weiter zu reisen, indem sie auf das Grenztor zuliefen und eine Schienenblockade begannen.
Am 23. Februar wurden wir ZeugInnen eines weiteren gewaltsamen Polizeieinsatzes gegen Geflüchtete in Idomeni. Wieder einmal wurden diejenigen Menschen von der Grenze weggebracht, denen ihr Recht auf Bewegungsfreiheit und ihr Recht einen Asylantrag zu stellen, verwehrt wird. Also, für die – wo und von wem auch immer – entschieden worden ist, dass sie vorläufig in Griechenland bleiben müssen. Gegen ihren Willen und unter Ausschluss der Medien und unabhängigen BeobachterInnen wurden sie gezwungen, in Busse zu steigen und wurden abtransportiert.
Auch für die anderen, die sich derzeit noch im Camp in Idomeni befinden, ist die Weiterreise erheblich schwieriger geworden, da der neue Registrierungsprozess in Mazedonien ein Ausweispapier von ihnen verlangt, welches viele nicht besitzen. Die Einführung der neuen Maßnahmen hat tausende Menschen ihrer fundamentalen Rechte beraubt und zu einem kompletten Chaos am Beginn des „offiziellen Korridors“ geführt.
Athen:
In Sxisto, einem Vorort von Athen wurde vor kurzem ein weiteres Camp eröffnet, in das Menschen gebracht werden, die im Hafen von Piraeus ankommen und nicht über die Grenze nach Mazedonien dürfen. Das Camp befindet sich auf einem Militärgelände und sollte eigentlich die Situation im bereits ausgelasteten Lager Elaionas in Pireaus entschärfen. Doch schon wenige Tage nach seiner Eröffnung ist das Sxisto Camp am Rande der Aufnahmekapazitäten.
Nach Angaben der Polizei vor Ort waren dort am Morgen des 24. Februars bereits 1.115 Menschen untergebracht, obwohl das Camp für maximal 800 Menschen ausgelegt ist. Nicht wenige, die in dem Camp in Sxisto ankommen, verlassen das Camp umgehend wieder. Sie wollen vor allem nach Athen zum Treffpunkt am Victoria Platz oder (wieder) zur Grenze nach Idomoni. Das von Militär und Polizei verwaltete Camp kann nur von den dort bereits registrierten Personen betreten werden, BeobachterInnen und dort nicht registrierten Personen bleibt der Zugang verwehrt.
Gegen Mittag des selben Tages kamen vier Busse an, die Menschen aus Idomeni brachten. Es handelte sich hierbei hauptsächlich um AfghanInnen. Ein Afghane berichtete uns gegenüber, dass er in einer Gruppe die Grenze zu Mazedonien überquert hatte, dann jedoch von der Polizei aufgegriffen und für 12 Stunden inhaftiert wurde. Während der Inhaftierung wurde er laut seinen Angaben beschimpft und auch geschlagen, wobei auch kroatische Beamte involviert gewesen wären. Schlussendlich wurde ihnen von den Beamten höhnisch mitgeteilt, sie würden nun nach Serbien gebracht, während sie in Wirklichkeit wieder über die Grenze nach Griechenland zurückgebracht wurden und er wurde gezwungen, in einen von insgesamt zehn Bussen zu steigen, die in Idomeni starteten. Die anderen Busse seien abgebogen und vermutlich in andere Camps gefahren.
Auch am Victoria Platz im Zentrum Athens halten sich sein den letzten Tagen mehrere hundert Geflüchtete auf, die nicht weiterreisen können. Wie bereits im vergangenen Sommer ist der Platz vor allem ein Treffpunkt von AfghanInnen. Vor Ort gibt es keinerlei Infrastruktur zur Versorgung, obwohl die Zahl der dort Versammelten vermutlich weiter steigen wird. Wir wurden ZeugInnen, wie eine Person sich dort aus Verzweiflung versuchte zu erhängen und anschließend von einem Krankenwagen abtransportiert wurde.
Schließlich ist der Rückstau durch die geschlossenen Grenzen auch im Hafen von Piraeus angekommen. Die dort ankommenden Menschen (darunter auch SyrerInnen und IrakerInnen) sitzen zum Teil schon seit drei Tagen dort fest und sind notdürftig in den Terminals des Fährhafens untergebracht und schlafen auf Pappkartons. Aufgrund der Situation im Hafen haben die griechischen Behörden angekündigt, den Fährverkehr von Lesbos bis Sonntag ganz einzustellen, die Fähren zurück zu halten und als temporäre Unterkünfte zu nutzen. Am Eingang des Hafens kam es am 26. Februar zu einer Sitzblockade von etwa 150 Menschen, die zuvor mit der Fähre aus Lesbos angekommen waren und forderten, weiterreisen zu dürfen.
(Zwischen-)Fazit
Es ist davon auszugehen, dass sich die Lage in den nächsten Tagen weiter zuspitzen wird: Die Zahl der Ankommenden auf den Ägäis-Inseln steigt wieder und auch der Anteil der AfghanInnen hat weiter zugenommen. Dafür was mit diesen Menschen nun passieren soll, gibt es offensichtlich keinerlei Plan, weder von der EU, noch von den Nationalstaaten. Klar ist jedoch, dass belegen die Entwicklungen des letzten Jahres auf der Balkanroute und in Budapest im letzten Sommer eindrucksvoll: Die Betroffenen werden neue Wege suchen und finden, es wird sicherlich auch wieder zu größeren Protesten kommen und vor allem das Schleuserwesen wird in neue Phase des konjunkturellen Aufschwungs übergehen. Erst recht da Slowenien heute ankündigte, in Zukunft maximal 580 Personen täglich passieren zu lassen.
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