detention, deportation, dubious legislation

– Der EU-Türkei-Deal steht auf wackeligen Beinen und hat trotzdem bereits dramatische Auswirkungen

»Freedom!« und »No Turkia« rufen die Menschen hinter dem Zaun immer wieder. Hier im sogenannten Hotspot »Vial« auf der Insel Chios sind seit Inkrafttreten des Abkommens zwischen der EU und der Türkei über 1.000 Menschen inhaftiert. In der ehemaligen Recycling-Fabrik schlafen sie auf Pappe und werden von Freiwilligen durch den Zaun mit Essen versorgt. All das geschieht abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die großen NGOs haben sich verabschiedet, Medienvertreter_innen sind kaum präsent. Nur eine Gruppe Aktivist_innen beobachtet und dokumentiert die Situation.

Am 31. März gelingt es den in Vial Inhaftierten, sich für kurze Zeit ihre Freiheit zu erkämpfen und einem Protest auf der anderen Seite des Zauns anzuschließen. Sie reißen den Stacheldraht nieder und laufen in einem Demonstrationszug in die Stadt Chios. Viele von ihnen kehren am Abend aus Mangel an Alternativen in ihr »Gefängnis« zurück. Andere errichten am Hafen ein Protestcamp. Sie machen deutlich: Sie wollen nicht in Griechenland Asyl beantragen und noch weniger in die Türkei zurück. Sie wollen weiterreisen!

Vier Tage später beginnen die Abschiebungen. Die EU und vor allem die griechische Regierung müssen nun beweisen, dass die beschlossene Rückführung der Geflüchteten in die Türkei tatsächlich umgesetzt wird. In einer massiven Polizeiaktion werden am Morgen des 4. April insgesamt 202 Menschen von den Inseln Lesbos und Chios auf Fähren gebracht. Die mediale Inszenierung ist gelungen, der Polizeihubschrauber begleitet die Fähren bis zum türkischen Festland. Dort steht den meisten von ihnen die Abschiebung ins Herkunftsland bevor.

Der »Merkel-Plan“

Dies ist der »Merkel-Plan« (1), der in der Zusammenarbeit mit der Türkei eine europäische Antwort auf die erhöhten Migrationsbewegungen formulieren will. Seit letzten Oktober steht er auf der Top-Liste unter den Krisenlösungen. Auf Merkels Bestreben hin, wurde die Türkei als privilegierter Verhandlungspartner aufgenommen und am 29. November 2015 kam ein erster Pakt zwischen der EU und der Türkei zustande. Dieser hatte jedoch keine einschneidenden Konsequenzen und zeigte wenig Wirkung auf die Ankunftszahlen in der Ägäis. Auf niederländische Initiative hin (2) wurde der Plan im Januar um die Idee des Rückführungs-Umverteilungs-Handels ergänzt. Eine Realisierung schien zuerst unwahrscheinlich und niemand erwartete große Ergebnisse vom EU-Türkei Gipfel am 8. März. Dann präsentierte der türkische Ministerpräsident Davutoğlu den neuen Masterplan des Eins zu Eins Austauschs von Syrer_innen, den er am Vorabend mit Merkel und dem niederländischen Ministerpräsident Rutte festlegte. Beim folgenden Gipfeltreffen am 18. März wurde der Entwurf schließlich verabschiedet.

Den Deal als »European Solution« (3) zu bezeichnen, scheint jedoch mehr als übertrieben. Nicht alle Mitgliedsstaaten befürworten das Abkommen und vielerseits herrscht Skepsis über die zugestandene Visa-Freiheit und die Neuaufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Die Umsetzung des Abkommens in seiner geplanten Form ist äußerst fraglich. Allein die Auflagen, welche die Türkei für ihre Visa-Freiheit und die weiteren EU-Milliarden noch erfüllen muss, könnten den Deal wieder platzen lassen und Verhandlungen neu aufrollen. Ein weiterer Streitpunkt ist die Aufnahme und Verteilung (»Resettlement«) der insgesamt 72.000 Syrer_innen aus der Türkei. Bis jetzt sind alle Versuche der EU gescheitert, einen Verteilungsschlüssel für Geflüchtete innerhalb der Mitgliedsstaaten einzuführen. Die im letzten Jahr beschlossene Umverteilung von 160.000 Asylsuchenden aus Italien und Griechenland wartet immer noch darauf umgesetzt zu werden. So sind aus Griechenland bis zum 22. März diesen Jahres nur 546 Personen in ein anderes EU-Land geflogen worden. Nationalen Alleingänge und vorgeschobene Sicherheitsbedenken nach den Anschlägen in Brüssel, haben die Aufnahmewilligkeit bis auf den Nullpunkt reduziert (4). Es gibt also keinerlei Anzeichen dafür, dass die Aufnahme von Syrer_innen aus der Türkei problemlos funktionieren wird – eher im Gegenteil.

Türkei kein sicherer Drittstaat

Daneben stehen rechtliche Fragwürdigkeiten. Kollektivabschiebungen widersprechen der EU Grundrechte-Charta und Rückführungen in die Türkei, die nicht als sicherer Drittstaat gilt, dem sogenannten »Refoulement-Verbot« der Genfer Flüchtlingskonvention.

In den Tagen nach dem Beschluss des Abkommens hagelte es Kritik von allen Seiten: Die Türkei ist ein autoritärer Staat, der Geflüchteten keinen ausreichenden Schutz gewährt. Amnesty International veröffentlichte Fälle von türkischen Abschiebegefängnissen, in denen Menschen unter Zwang ihre freiwillige Ausreise unterzeichnen mussten und anschließend abgeschoben wurden. Dies betrifft zum Beispiel Afghan_innen und Iraker_innen, die in der Türkei weiterhin nicht als schutzberechtigt gelten. Auch zeugen Berichte davon, wie die Türkei mit allen Mitteln versucht, ihre Grenze zu Syrien zu schließen und dabei gewaltsam gegen Flüchtende vorgeht.

Die Tatsache, dass die Türkei kein »sicherer Drittstaat« ist, in den problemlos abgeschoben werden kann, erkannte auch die griechische Syriza-Regierung. Eigentlich sollte sie die Anerkennung in einer Asylrechtsänderung infolge des Abkommens bestätigen. Die am 1. April verabschiedete Gesetzesänderung umschifft jedoch den Passus des »sicheren Drittstaats« und erklärt zugleich die Voraussetzungen für Abschiebungen in die Türkei als trotzdem erfüllt. Ein cleverer Zug einer Regierung, die mit mehr als 50.000 festsitzenden Menschen im Land durchaus ein Interesse an der Umsetzung des Deals hat.

Illusion eines Asylverfahrens

Den Vorwurf der Kollektivabschiebung streitet die EU Kommission mit dem Hinweis auf ein Asylverfahren ab. Es stehe jeder Person offen, in Griechenland einen Asylantrag zu stellen. Die Anträge sollen direkt in den Hotspots im Eilverfahren individuell geprüft werden: Eine Woche für den Erstantrag, eine weitere für mögliche Folgeanträge. Zur Umsetzung sollen 2.500 Beamte_innen aus der ganzen EU nach Griechenland mobilisiert werden. Bis Anfang April kamen aber nur ein paar Dutzend Beamt_innen in den Hotspots an.

Die Durchführung eines individuellen Asylverfahrens auf den griechischen Inseln ist eine Illusion. Völlig unklar ist, wie Asylsuchende ausreichend Informationen und Zugang zu Übersetzung, Rechtsberatung und Anwält_innen erhalten sollen. Ebenso, ob auch unbegleiteten Minderjährigen und besonders schutzbedürftigen Menschen im Eilverfahren abgehandelt werden. Es kann nicht garantiert werden, dass alle Menschen tatsächlich die effektive Möglichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen. Noch unwahrscheinlicher ist, dass die Anträge für viele Menschen positiv ausfallen.

Aus diesem Grund stellten auch der UNHCR und »Medicines Sans Frontieres« (MSF) ihre Arbeit in den Hotspots infolge des Abkommens ein: »We will not allow our assistance to be instrumentalized for a mass expulsion operation« (5), erklärte die Griechenland-Vertreterin für MSF. Unter den Abgeschobenen am 4. April befanden sich UNHCR Berichten zufolge auch Personen, die Asyl beantragt haben oder den Willen äußerten, dies zu tun. Die Inhaftierten in Vial hatten keinen Zugang zu Übersetzer_innen oder rechtlichen Informationen. Zwei Tage vor der Abschiebung bekamen sie ein Formular ausgehändigt, in dem sie ankreuzen konnten: »I apply for asylum, yes/no. I will go back volunteer to Turkey, yes/no.« (6). Die Fragestellung suggeriert eine Wahl. Nichts macht deutlich, dass beide Punkte in direkter Abhängigkeit zueinander stehen.

»This is not a Camp, it’s a prison!« (7) – Hotspots zu Abschiebeknästen

In der bisherigen Praxis waren die Hotspots vor allem Registrierungszentren. Durch Frontex Mitarbeiter_innen wurde jede Person identifiziert, das heißt: Fingerabdruck und Feststellung der Nationalität. Für die Versorgung der Menschen verließ sich der Staat vollends auf das etablierte Netz der NGOs und Freiwilligen-Organisationen. Die Hotspots waren in ihrer Arbeit komplett auf diese Strukturen angewiesen. Sogar das Mittagessen bekam der »Moria«-Hotspot auf Lesbos von einer lokalen Unterstützungseinrichtung geliefert.

Mit dem Abschluss des Türkei-Deals veränderte sich die Situation auf den Inseln rasant. Schon  einen Tag nach dem Gipfeltreffen, begannen die griechischen Behörden auf den Inseln Lesbos und Chios die Camps zu räumen. Tausende Menschen wurden mit gecharterten Fähren auf das griechische Festland verschifft. NGOs und Freiwillige wurden aufgefordert, die Inseln zu verlassen.
Griechenland schaffte Platz, um die neu Ankommenden legitimiert durch das Abkommen direkt zu inhaftieren. Die Haftkapazitäten wurden ausgebaut und die Hotspots in wenigen Tagen zu geschlossenen Abschiebeknästen umgerüstet.

Der Sommer kommt

Die Ankunftszahlen auf den griechischen Inseln sind seit Inkrafttreten des Deal gesunken. Trotzdem  schafften es zwischen dem 20. März und dem 4. April mehr als 6.000 Menschen von der Türkei überzusetzen. 90 Prozent von ihnen beantragte Asyl, eine konsequente Abschiebung wird schwer möglich sein.

Was der Türkei-Deal bewirkt, ist also keine Schließung der Ägäis-Route, sondern eine Unterbrechung und Irritation im etablierten Weg. Auch der EU ist klar, dass die Abschreckung durch Abschiebungen maximal zu Verlagerungen führt. Schon jetzt lebt die Libyen-Italien Route wieder auf. Die Übertritte im zentralen Mittelmeer sind in den letzten Wochen deutlich gestiegen.

Wie das Abkommen mit Libyens ehemaligem Machthaber Gaddafi zielt der Deal zwischen der EU und Erdoğan auf die Externalisierung von Migrationskontrollen ab. Um das Europäische Grenzregime humaner wirken zu lassen, wird die Repression und Militarisierung der Außengrenze vorgelagert.

Dass Migrationsbewegungen dadurch nicht abreißen, hat sich immer wieder bewiesen. Doch wir sollten uns nicht darauf ausruhen, dass der Sommer kommt und die Autonomie der Migration sich neue Wege erkämpft. Die Abschiebeknäste und Sammelabschiebungen im Zuge des Abkommens zeigen, dass hier Macht demonstriert werden soll ohne Rücksicht auf internationales Flüchtlingsrecht. Es ist daher wichtig, die Durchsetzung des Türkei-Deals weiter zu dokumentieren, zu kritisieren und an der Seite von Betroffenen dagegen zu handeln, um das eh schon wankende Abkommen so schnell wie möglich zu Fall zu bringen.

–  Artikel in ähnlicher Form erschienen in: Analyse&Kritik Nr. 615, 19.4.2016

1) N-tv: Flüchtlings-Kooperation mit Türkei. So soll der „Merkel-Plan“ die Krise beenden. 5.10.2015
2) Vorangetrieben durch Diederik Samsom, Fraktionschef der niederländischen »Partij van de Arbeid«
3) Angela Merkel: Bundestagsrede. 17.3.2016
4) Slowakischer EU-Abgeordneter Richard Sulík: »Unsere Obergrenze für Flüchtlinge liegt bei null«. Anne Will Talk Show. 6.3.2016
5) Marie Elisabeth Ingres: Greece: MSF ends activities inside the Lesvos “hotspot”. 22.3.2016
6) Eurodac Vial: Formular ohne Titel. 3.4.2016
7) Inhaftierte Person in Vial zit. n. Benjamin Julian: https://refugeetrail.wordpress.com. 22.3.2016