Der EU-Türkei–Deal und seine Konsequenzen [Update: 9]

Nachdem am Freitag, den 18. März 2016 der EU-Türkei-Deal beschlossen wurde, wird er nun mit Hochdruck umgesetzt. In diesem Artikel, den wir laufend aktualisieren werden, verfolgen wir die Umsetzung mit einem groben Fokus auf Griechenland und die Ägäis.

Montag, 4. April 2016

Die ersten Abgeschobenen kommen heute Morgen in Dikili (Türkei) an. Eine Beobachterin berichtet:

„Today early in the morning at about 9am the two boats from Lesvos arrived in Dikili – several hours earlier than officially announced before. Lots of officials and politicians smiled in many cameras, as the international media presence was very high, although critical journalists were not allowed to register as one of them told us. Police was also prepared, with fence, helicopter and water cannons. Some activists from Izmir and some locals were able to show their protest banners. Our own banner „Stop deportations. Open borders!“ was already removed by the police.

Apart from two Syrian people (about whom it is said that they returned voluntarily) all deported refugees (136 from Lesvos and 66 from Chios) were from Algeria, Pakistan, Bangladesh and Sri Lanka. We got the infos that all of them are transferred by busses now to a camp near the Bulgarian border Kirklareli Gazi Osman Pasa near Edirne and they will soon all get deported to their different countries of origin. What will happen to the Syrians remained unclear to us.“

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Protest am Hafen von Dikili

Insgesamt wurden 202 Menschen von den griechischen Inseln Chios und Lesbos in die Türkei abgeschoben. Sie wurden mit Bussen von den Hotspot-Abschiebeknästen zum Hafen gebracht und mit massiver Polizeibegleitung auf Fähren gedrängt.

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Abschiebe-Fähre verlässt den Hafen von Chios Richtung Türkei

Eine Aktivitin auf Chios berichtet von willkürlicher Auswahl der Abgeschobenen:

„A guy camping at the harbour with his family and other syrian refugees was captured by the police on his way to the toilet. He was told to be deported. Seperated from his family. Only after protesting of surrounding people and long discussions with Frontex officers and greek police, they agreed t

o let him go.“

Frontex behauptet gegenüber der Presse, es würden nur Personen abgeschoben, die keinen Asylantrag beantragen wollen. Es ist jedoch mehr als fraglich, ob sie hierzu überhaupt die Möglichkeit hatten. Laut Berichten von Beobachter_innen vor Ort gab es im Hotspot Vial erst seit Samstag, den 2. April die Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen.  Es seien jedoch keine Übersetzer_innen oder griechische Asylbeamte anwesend, sondern nur Polizei. Auch war es syrischen Geflüchteten nicht erlaubt, einen Asylantrag in dem von ihnen erichteten Camp am Hafen von Chios zu stellen. Sie sollten in ihr „Gefängnis“ in Vial zurückkehren. Aus Angst vor Inhaftierung und Abschiebung lehnten viele dies jedoch ab.

In den Tagen zuvor kam es auf Chios und Lesbos immer wieder zu Protesten. Im Hotspot Moria startete eine Gruppe von Pakistaner_innen einen Hungerstreik. Auf Chios besetzten Geflüchtete mit einem Protestcamp den Hafen.

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Am Protestcamp im Hafen von Chios

Aktivist_innen auf den Inseln berichten von Repression gegen sie. Immer wieder seien Leute verhaftet worden, die sich am Zaun von Vial oder nur an der Zufahrtsstrasse aufgehalten haben:

„Every time you stay any close to the fence, you risk to spend the next hours at the police office“

Die Öffentlichkeit soll von den aktuellen Geschehnissen ausgegrenzt werden. Die offensichtlich rechtswidrigen Praktiken infolge des EU-Türkei-Deals sollen nicht zivilgesellschaftlich dokumentiert werden.

Sonntag, 3. April 2016

Prosteste gegen die geplante Massenabschiebungen:

Auf den griechischen Inseln werden die Proteste von Geflüchteten  immer lauter. Sie wehren sich gegen ihre geplante Abschiebung in die Türkei.

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Am Donnerstag den 31. März gelang es den, seit zwei Wochen im Hotspot Vial (Insel Chios) inhaftierten Menschen kurzzeitig sich ihre Freiheit zu nehmen und sich einem Protest auf der anderen Seite des Zauns anzuschließen. Die meisten kehrten am Abend jedoch wieder zurück nach Vial.

Eine Gruppe von Syrer_innen startete am Freitag ein Protestcamp am Hafen von Chios. Immer wieder kam es zu kleinen Demonstrationen. Die ankommenden Fähren von Athen wurden auf die andere Seite der Insel umgeleitet.

Eine Aktivistin vor Ort berichtet:

Refugees are still at the harbour. Ever since they occupied it, all ferries took a detour to Mista port on the other side of the island. They protested every few hours. Small groups who left were arrested and taken back to Vial (prison). Now, they are told that they need to go to Vial to apply for Asylum in
Greece. However, the UNHCR claims that people would after that be brought back to the port.

Die Protestierenden machen deutlich: Sie wollen weiterreisen! Es ist nicht ihr Ziel in Griechenland Asyl zu beantragen. Noch weniger kann ihnen die Türkei Schutz bieten.

Am morgigen Montag, den 4. April sollen die Abschiebungen von den Inseln Lesbos und Chios in die Türkei beginnen.

Dienstag, 29. März 2016

Seit über einer Woche sind nun geflüchtete Menschen im sogenannten Hotspot Vial auf der Insel Chios inhaftiert.

Laut Angaben von Aktivist_innen vor Ort befinden sich derzeit 1275 Menschen in Vail.  Eine Registrierung und die Möglichkeit der Asylantragstellung wird ihnen weiterhin vorenthalten. Ein Plakat im Lager verweisst  darauf,  der Polizei gegenüber ein Asylbegehren zu äußern und nach Informationen zu

fragen. Der Versuch der Inhaftierten dies zu tun wurde bisher jedoch zurück gewiesen.

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Die Versorgung der Menschen ist weit

erhin ungesichert. Essen bekommen sie von Unterstützer_innen durch den Zaun gereicht.

Es wurde eine Facebook-Seite eingerichtet, über die regelmäßig Nachrichten und Videos der Inhaftierten veröffentlicht werden.

Donnerstag, 24. März 2016

Folgende Informationen wurden uns von Personen zugesandt, die in Chios sind, und die die Meldung von gestern präzisiert:

Yesterday, March 23 2016, an activist on Chios reported about Police repression towards activists and moreover about the Police neglecting the camp in Vial.

On Tuesday, after a refugee protest had taken place inside the camp, some activists were arrested but later released. Then, yesterday, when they had gone to the camp and stood outside the fence to talk to refugees and hand them some food, the police came, took their ID and trespassed them from the place (which is a public road), saying it was a “restricted area”.

Moreover, they then heard the rumour from a pers

on working for the NGO inside the camp that the police had left the camp, claiming that tensions between different refugee groups were too big. Later, we got the information from a refugee detained inside that three Syrian people were wounded in a fight, including a woman. It seems that after that, two or three police officers re-entered the site.

It seems that despite our efforts to bring the public to th

is place, there is still little to no press and the same small group of activists remaining as there was in the first place. The police can do pretty much anything, and people inside are in danger! They lack food, medicine, the sanitary situation is a catastrophe, there are no information and no access to asylum! And now, the police even try to keep away the only independent people who are monitoring this.

Mittwoch, 23. März 2016

Die auf Chios im Hotspot Vial inhaftierten Menschen begannen am gestrigen Nachmittag einen Protest. Ihnen wurde der Kontakt mit Aussenstehen verboten, ihre Handys konfisziert. So blieben ihnen nur ihre Stimmen, um Freiheit zu fordern.

Der UNHCR und Medicines Sans Frontiers haben Vial inzwischen verlassen und ihre Kooperation in diesem Zusammenhang aufgekündigt.

Am Nachmittag wurde Aktivist_innen polizeilich verboten mit den Inhfatierten im Hotspot Vial zu sprechen oder sich nur in der Nähe aufzuhalten.  Ihnen wurde mit Repression gedrohnt. Durch ein Gespräch mit dem Norwegian Refugee Council, der letzten Organisation, die im Hotspot selbst tätig war, er fuhren sie, dass auch der NRC seine Arbeit dort einstellt hat:

„there is nobody inside Vial, apart from the refugees. Police has also left. The refugees are fighting inside and there are protests and the police is afraid of the violence.“

Aktuell befinde sich keine zuständige Person mehr im Hotspot, die für die Versorgung der Inhaftierten garantiere. Die Situation sei außer Kontrolle und immer noch sei keine Presse vor Ort, um dies zu dokumentieren.

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Dienstag, 22. März 2016

Der UNHCR weigert sich auf Lesbos, an der Umsetzung des Deals mitzuwirken. Kritikpunkt ist die Inhaftierung aller Flüchtlinge, die auf Lesbos ankommen:

UNHCR is opposed to the mandatory detention of all arrivals as alternatives to detention on these islands are or should be made available. […] We have taken a principled decision to disengage from transportation to and from Moria, as since Sunday, freedom of movement is not guaranteed.

siehe auch Statement des UNHCR vom 22.3.2016

Bericht einer Aktivistin auf Chios:

On Chios, before the deal between the EU and Turkey has come into effect on Sunday all refugees have been transferred to the mainland. Now the camps are empty apart from the „Hotspot“ Vial, which is a deportation prison, where all people arriving from Turkey since Sunday get taken to. There are between 700 and 1000 refugees in Vial. People can’t get out (nor can we get inside). They have no access to information, nor do they get told what is going to happen to them.
When new refugees arrive, they get a bracelet with a number on it, which they have to wear. They don’t know why and what the number is for. The people have no legal advice and no information whom to speak to about getting legal advice. There is no possibility provided to claim asylum in Greece.
There are also lots of kids inside the prison. But there is not enough food for babies, no tab water access, no places to wash and no medicine. The people have to sleep on pallets and cardboard. Although the agreement between EU and Turkey has been in effect only 2 days, the impact is immense and once more Europe is showing no regard on human rights.

Dazu wurde dieses Video veröffentlicht.

my.antira.infomy.antira1.infomy.antira2.info

150 Personen aus Lesvos in Abschiebehaft genommen:

Ein Teil der, von den Inseln verteilten Geflüchteten wird auf dem griechischen Festland in Abschiebehaft genommen. 150 Personen afghanischer und pakistanischer Nationalität kamen heute Morgen am Hafen von Pireaus an, wurden in Handschellen von der Fähre geführt und in das Abschiebegefängnis nach Corinth gebracht. Von dort aus sollen sie in die Türkei abgeschoben werden.

Montag, 21. März 2016

Über 3000 Menschen wurden in den letzten zwei Tagen in einer Eilaktion von den Inseln Lesvos und Chios auf das griechische Festland transferiert. Nun, da der herbeigesehnte Deal mit der Türkei endlich festgezurrt ist, soll alles ganz schnell gehen.

Am Freitag, den 18.3.2016, wurde sich beim EU-Türkei Gipfel auf eine 1-1-Umverteilung geeinigt, die vorsieht, für jede/n von Griechenland in die Türkei zurückgewiesen Syrer_in, eine für schutzbedürftig befunden/e Syrer_in aus der Türkei in ein anderes EU-Land umzuverteilen. Der Deal zielt darauf ab, Geflüchtete von Überfahrt auf die griechischen Inseln abzuschrecken und die Ankunftszahlen zu reduzieren. Der Rückschiebe-Umverteilungs-Handel soll am 4.4. starten und umfasst vorerst 18.000 Plätze. Diese sind Teil eines bereits zuvor von der EU verabschiedeten Kontingents, wonach 22.000 Geflüchtete aus den Anrainerstaaten Syriens in die EU umverteilt werden sollten. Statt mit diesem Kontingent Staaten wie Jordanien zu entlasten, nimmt nun der „Gefangenenaustauch“ mit der Türkei die meisten dieser Plätze ein. Weiterhin wurde vereinbart, die Zahl gegebenenfalls um weitere 54.000 Plätze aufzustocken, wonach also insgesamt 72.000 Menschen nach diesem Deal in die Türkei zurückgeschoben und andere dafür aus der Türkei umverteilt werden sollen.

Im Gegenzug wurde der Türkei eine vorgezogene Visafreiheit ab Juni in Aussicht gestellt und die Zahlung weiterer 3 Milliarden bis 2018 (insgesamt also 6 Milliarden) vereinbart.

Der Deal trat am Sonntag, den 20.3. in Kraft. Alle Geflüchteten, die nach diesem Datum auf den griechischen Inseln ankommen, sollen nicht mehr registriert werden und weiterreisen dürfen, sondern in den Hotspots festgehalten werden. Damit werden die Hotspots, wie befürchtet, in eine reine Internierungs-Infrastruktur umgewandelt.

Bereits am Samstag, einen Tag nach der Vereinbarung begann die griechische Regierung die Inseln zu räumen. In einem massiven Polizeieinsatz wurden Menschen auf Lesvos und Chios dazu gezwungen, die Camps zu verlassen und auf Fähren gebracht. Ihre Fährtickets mussten sie trotzdem aus eigener Tasche bezahlen. Eine bereits seit Wochen im Hafen von Mytilini bereit stehende Fähre mit einer Kapazität von 2500 Plätzen, verließ am Sonntag die Insel Lesvos. Die Menschen wurden nach Elefsina (nahe Athen) und Kavala verschifft und sollen von dort aus in Camps verteilt werden.

NGOs und Freiwillige Helfer_innen wurden aufgefordert die Inseln zu verlassen, viele Organisationen packen bereits ihre Sachen, Freiwilligen-Initiativen haben angekündigt die Inseln zu verlassen und auf das griechische Festland umzuziehen. Der UNHCR hat den Bustransport auf Lesvos von den Küsten zum Hotspot „Moria“ eingestellt. Wer jetzt noch ankommt, ist wieder auf sich gestellt. In Moria wurde unterdessen die Registrierungspraxis eingestellt, es laufen Umbauarbeiten, um den Hotspot möglich schnell in ein geschlossenes Abschiebegefängnis umzuwandeln.

Bisher fungierten die sogenannten Hotspots als simple Registrierungszentren, in denen Frontex – im Fall von Moria vor allem deutsche Offiziere – zusammen mit griechischen Behörden eine Identifizierung, Fingerabdrucknahme und Nationalitätenfeststellung vollzog. Eine Security-Maßnahme mit wenig Zeitaufwand, die primär darauf abzielt, alle Ankommenden in den Europäischen Datenbanken zu erfassen. Abhängig von der im Registrierungsprozess zugeordneten Nationalität wird eine Person als potentiell schutzberechtigt oder „illegal“ einkategorisiert. So wurden den meisten Menschen nach der Registrierung ein 30-tägigen Aufenthaltspapier ausgestellt, was sie berechtigt ein Fährticket zu kaufen und durch Griechenland weiterzureisen. Für SyrerInnen war das Papier sechs Monate lang gültig. Pakistaner_innen und Angehörige der Maghreb-Staaten waren von dieser Praxis jedoch grundsätzlich ausgeschlossen und wurden vereinzelt inhaftiert. Ihnen wurde kollektiv das Recht auf Asyl und jegliche Versorgung verwehrt. Seit Anfang des Jahren wurden bereits 608 Personen pakistanischer, marokkanischer, tunesischer und algerischer Nationalität in die Türkei abgeschoben.

Dieses Verfahren soll nun auf alle Ankommenden ausgeweitet werden. Ob dies in der Praxis so umsetzbar ist, hängt davon ab, wie schnell Griechenland die Detention-Plätze in den Hotspots ausbauen kann und ob sich die Menschen durch den Deal tatsächlich von einer Überfahrt abhalten lassen. Am Sonntag kamen trotz Inkrafttretens der Vereinbarung mehrere hundert Menschen auf Lesvos an. Auf Chios landeten am Montag den 21.3. doppelt so viele Boote wie am Vortag. Alle Ankommenden wurden in die jeweiligen Hotspots nach Moria und Vial gebracht und bisher nicht registriert. Der Startschuß für die Rückführungen in die Türkei, der 4. April, liegt jedoch noch zwei Wochen entfernt. Sollten die Ankunftszahlen nicht sinken und weiterhin hunderte Menschen pro Tag ankommen, werden die Kapazitäten nicht ausreichen, um alle Menschen in den Hotspots festzuhalten und schließlich konsequent abzuschieben.

Mit den Verschiffungen der Geflüchteten auf das Festland soll offensichtlich Platz gemacht werden.

Auch zielt es darauf ab, die in den letzten Monaten etablierte Infrastruktur an Hilfsorganisation und das Netzwerk zivilgesellschaftlicher Initiativen von den Inseln zu vertreiben. Die nun zu implementierenden Maßnahmen sollen nicht mehr von Freiwilligen und NGOs begleitet werden, sondern hinter Mauern und Stacheldraht ausschließlich in den Hotspots geschehen. Zu diesem Zweck haben Deutschland und Frankreich die Entsendung von 600 Grenzschützern und Asyl-Experten nach Griechenland angekündigt.

Aktuell befinden sich rund 50.000 Flüchtlinge in Griechenland, und es ist unklar, wie mit ihnen verfahren werden wird.