Die Migrationsagenda der Europäischen Union und die Zukunft von Dublin

Eine Analyse von Aida Ibrahim und Bernd Kasparek, erschienen in Hinterland Magazin Nr. 29 (PDF). Die Analyse wurde vor dem EU-Gipfel am 25./26. Juni 2015 fertiggestellt. Wenig überraschend konnte sich die Kommission auf dem Gipfel nicht mit ihrem Quoten-Vorschlag durchsetzen, es wurde lediglich eine freiwillige Umverteilung vereinbart (vgl. tagesschau.de vom 26.6.2015).

Dublin, das Zuständigkeitssystem für Asylverfahren innerhalb der EU, steht schon länger unter Druck. An erster Stelle sind hier natürlich die Flüchtlingen zu benennen, die sich weigern, sich dem technokratischen System zu unterwerfen und sich immer wieder auf den Weg in einen anderen EU-Mitgliedsstaat machen, um dort Aufnahme und Schutz zu suchen. Doch darüber hinaus gab es bisher auch eine unwahrscheinliche Allianz von antirassistischen Aktivist_innen, NGOs, Anwält_innen, europäischen Gerichten und Regierungen aus dem Süden der Europäischen Union, die eine tiefgreifende Reform Dublins forderten. Und dies alles vor der Entwicklung einer zunehmenden Dysfuktionalität des Dublin-Systems. Denn die tatsächlichen Rücküberstellungsquoten sind mittlerweile im niedrigen zweistelligen Prozentbereich angekommen. Zudem ist es ein offenes Geheimnis, dass etwa Italien bestenfalls eine laxe Praxis der Registrierung von Fingerabdrücken in der EURODAC-Datenbak verfolgt, die das technische Herzstück des Dublin-Systems bildet. Folge ist, dass die nordeuropäischen Staaten, die dank Dublin jahrelang von historisch niedrigen Asylantragszahlen profitierten, mittlerweile einen rasanten Anstieg neuer Fälle verzeichnen. Damit stellt sich die Frage nach der Zukunft Dublins derzeit mit Vehemenz.

Diese Vehemenz wurde spätestens am 12. Juni 2015 spürbar. „Österreich stoppt neue Asylverfahren“ titelt die Süddeutsche Zeitung (12.6.2015) und berichtet, auf verschiedene österreichische Medien verweisend, dass die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner von der konservativen ÖVP die Asylbehörden angewiesen habe, neue Asylanträge zwar anzunehmen und zu registrieren, diese aber nicht weiter zu bearbeiten. Vielmehr sollen sich die Behördenmitarbeiter_innen auf Rückführungen und Abschiebungen beschränken.

Diese gezielte Herbeiführung eines systemischen Mangels im österreichischen Asylsystem zielt selbstverständlich nicht auf ein Ausscheiden Österreichs aus dem Dublin-System ab. Vielmehr erklärt Mikl-Leitner, dass es ihr mit diesem Schritt darum geht, den Druck auf die anderen EU-Staaten zu erhöhen. Sie habe sich laut Süddeutscher Zeitung schon seit Langem für eine Quotenregelung an Stelle des Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens a la Dublin ausgesprochen. Diesbezüglich wird sie folgendermaßen zitiert: „Bisher gibt es nur einzelne Absichtserklärungen. Die bringen uns nicht weiter.“

Die Krise Schengens

Dabei bleibt zunächst offen, aus welchem Grund das Dublin-System gerade im Jahr 2015 in die Krise gerät. Die Effekte des Dublin-Systems auf Flüchtlinge und südliche EU-Mitgliedsstaaten sind schon viele Jahre bekannt. Die höchstrichterliche Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (hier vor allem die Fälle MSS und Tarakhel) wie auch das Dublin-Urteil des Europäischen Gerichtshofs mit ihren einschneidenden Konsequenzen für die Gesamtarchitektur Dublins wurden schon vor einiger Zeit gefällt. Eher jüngeren Datums ist die Dublin-Novelle (Dublin III), die am 19. Juli 2013 in Kraft getreten ist. Hier ist vor allem festzuhalten, dass sie keine substanziellen Änderungen der dem System immanenten Logik mit sich gebracht hat (vgl. Lehnert 2015). Schon der legislative Prozess war durch einen Konsens über die Beibehaltung des existierenden System geprägt (vgl. Lorenz 2013).

Vielmehr ist davon auszugehen, dass die derzeitige Krise Dublins Effekt des Zusammenbruchs der Grenzkontrolle im zentralen Mittelmeer ist. Diese Entwicklung nahm mit den Aufständen des arabischen Frühlings und dem Bürgerkrieg in Libyen ihren Anfang, kamen der EU und insbesondere Italien doch hier ihre staatlichen Kooperationspartner in Fragen der Migrations- und Grenzkontrolle (Tunesien und Libyen) abhanden. Doch ging es 2011 vor allem um die externe Dimension des Migrationsregimes, so führten die Schiffsunglücke vor Lampedusa im Oktober 2013 zu einer handfesten Legitimationskrise des Grenzregimes, die sich vor allem im europäischen Diskurs über die Zukunft der Grenzkontrolle niederschlägt. Das tödliche Wochenende vom 18. und 19. April 2014, an dem rund 650 Flüchtlinge ertranken (BBC 19.4.2015), hat diese Krise nur vertieft.

Bekanntermaßen führten die Unglücke von Lampedusa einerseits zu vollmundigen Ankündigungen der EU, ihre Migrations- und Grenzpolitik zu überdenken, andererseits setzte die italienische Regierung die Marine-Operation Mare Nostrum in Gang, die zum ersten Mal in der Geschichte des europäischen Grenzregimes der Rettung von Menschenleben eine höhere Prioritat zuwies als dem Schutz der Außengrenze (vgl. Kasparek 2015). Bekannt ist jedoch auch, dass Italien Mare Nostrum auf Druck der EU zum November einstellte und stattdessen die Frontex-Operation Triton gestartet wurde.

Dabei sind sowohl Mare Nostrum als auch Triton nur verschiedene Versuche, der stark angestiegenen (Flucht-)Migration über das Mittelmeer wieder Herr zu werden. Ob humanitaristisch angehaucht, oder vollkommen der Grenzkontrolle verpflichtet, beide Operationen waren und sind weiterhin mit der Tatsache konfrontiert, dass im Jahr 2014 rund 200.000 Flüchtlinge die EU über das Meer erreicht haben (UNHCR 2014), eine Vervierfachung der Zahlen von 2013, und Frontex – sicherlich nicht ohne Eigeninteresse – für 2015 von bis zu 1 Million Flüchtlingen ausgeht (Zeit Online 6.3.2015).

Auf der Ebene der EU-Politik entfaltete sich daher im Frühjahr 2015 hektische Aktivität. Der neue Kommissionspräsident Junker hatte schon bei der Vorstellung seiner Kommission 2014 einen Neuaufschlag in der europäischen Migrationspolitik angekündigt. Doch zuerst preschte im März 2015 die italienische Regierung mit einem „Non-Paper“ vor, in dem, mal wieder, die Einbeziehung von Drittstaaten (nun vor allem Ägypten) in die Migrationskontrolle gefordert wurde (vgl. Kasparek/Tsianos 2015). Dies führte erneut zu der unvermeidlichen Debatte um Flüchtlingslager in Nordafrika. Letzteres wurden schon 2004 als Blair-Schily-Plan diskutiert und verworfen. Die Vorverlagerung der Migrationskontrolle war wiederum schon seit mindestens einem Jahrzehnt gängige Praxis im Mittelmeer und hat sich in dieser Zeit nicht als praktikables Mittel erwiesen: Das Outsourcing von Kontrolle an Diktaturen war und ist zum Scheitern verurteilt.

Nach dem tödlichen Wochenende im April präsentierte die Kommission einen Zehn-Punkte-Plan (2015a). Dieser beinhaltete vor allem eine Stärkung der Frontex-Operationen im Mittelmeer, ein forciertes Vorgehen gegen Schlepper und Schleuser, eine Unterstützung der Asylsysteme in Italien und Griechenland durch das Europäische Asylunterstützungsbüro (EASO) sowie eine Aufforderung an die Mitgliedsstaaten, die Praxis der Fingerabdruckabnahme wieder ernsthaft zu verfolgen. Dazu folgen Verweise auf zu prüfende Relocation- und Resettlement-Programme sowie Absichtserklärungen im Bereich der Vorverlagerung. Auch wenn der Plan ein Maßnahmen-Paket darstellt, so lässt er sich doch als prägnante Analyse der Probleme des europäischen Migrationsregimes lesen. Dahingehend unterstreicht er den von uns nahegelegten Zusammenhang zwischen dem Zusammenbruch der Kontrolle im Mittelmeer und der politischen Krise Dublins.

Dabei ist erstmal nicht davon auszugehen, dass die Vorverlagerung der Migrationskontrolle in näherer Zukunft umsetzbar ist und Ergebnisse im Sinne einer Reduktion der Migration nach Europa zeitigen wird. Der vor allem von der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini verfolgte Plan einer Militärmission nach dem Vorbild der Anti-Piraten-Mission Atalanta vor der Küste Somalias, mit der Schlepper und Schleuser vor allem in Libyen militärisch bekämpft werden soll, scheint eher verzweifelt. Dank der von Wikileaks veröffentlichten internen Dokumente (Rat 2015a; 2015b) lässt sich mittlerweile abschätzen, wie illusorisch das Unterfangen ist. Gleichzeitig scheint das notwendige UN-Mandat in Ferne, da sich Russland im UN-Sicherheitsrat gegen die Mission stellt.

Relocation und Resettlement: Überdruckventil für Dublin

Ernstzunehmender und realistischer sind daher die Vorstellungen der Kommission, die im Mai drei Kommunikationen veröffentlichte. Am 13. Mai wurde die „European Agenda on Migration“ (2015b) vorgestellt. Diese orientiert sich am Zehn-Punkte-Plan, verspricht aber auch eine Aktivierung des Notfallmechanismus aus dem Lissabonner Vertrag (Art. 78(3)) bis Ende Mai 2015, einen langfristigen Gesetzesvorschlag zur Relocation bis Ende des Jahres 2015 sowie eine Empfehlung für einen EU-weiten Resettlement-Plan über 2016 hinaus.

Befinden sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassen. Er beschließt nach Anhörung des Europäischen Parlaments. — AEUV Art. 78 (3)

Am 27. Mai folgte dann wie versprochen ein Vorschlag für eine Ratsentscheidung zur Etablierungen vorläufiger Maßnahmen zu Entlastung Italiens und Griechenlands im Bereich des Asyls (2015d). Insgesamt 40.000 Asylsuchende sollen aus Italien (24.000) und Griechenland (16.000) in andere EU-Mitgliedsstaaten umgesiedelt (Relocation) werden. Davon betroffen wären Flüchtlinge aus Ländern mit einer Schutzquote von über 75%, wie es zur Zeit lediglich bei Schutzsuchende aus Syrien und Eritrea der Fall ist. Diese Vorgabe soll Flüchtlinge mit geringer Aussicht, als solche anerkannt zu werden, von der Umsiedlung ausschließen. Insbesondere Schutzsuchende aus den westlichen Balkanstaaten wären davon betroffen. Die Regelung ist zeitlich begrenzt: Sie soll für die Dauer von zwei Jahren und nur für Flüchtlinge, die nach dem Inkrafttreten der Maßnahme nach Griechenland und Italien eingereist sind, gelten. Der Verteilungsschlüssel soll anhand der Bevölkerungsgröße, dem Bruttoinlandsprodukt, dem Faktor Arbeitslosenquote, sowie der Aufnahmequote von Flüchtlingen berechnet werden. Die ersten beiden Faktoren fallen mit jeweils 40% ins Gewicht und die beiden letzten mit 10%. Nach dem vorgeschlagenen Verteilungsschlüssel müssten Deutschland und Frankreich als größte und wirtschaftsstärkste Mitgliedsstaaten die meisten Flüchtlinge aufnehmen. Als Anreiz würden die Mitgliedstaaten für jede aufgenommene Person eine Summe von 6.000 Euro erhalten. Insgesamt 240 Millionen Euro veranschlagt die Kommission für das Vorhaben.

Den selben Verteilungsschlüssel schlägt die Kommission in einer Empfehlung (rechtlich nicht bindend) für die Aufnahme von 20.000 Schutzsuchenden aus Ländern außerhalb der EU vor (Resettlement). Anders als bei der „Notumsiedlung“ soll die Beteiligung der Mitgliedsstaaten an einem Resettlement allerdings freiwillig erfolgen. Die Ratio der Kommission folgt dabei wieder der Krise der Grenze im Mittelmeer. Denn begleitet wird dieser Vorschlag der Kommission von einem „EU Action Plan against migrant smuggling (2015-2020)“ (2015c). Noch konkreter wird die Kommission in ihrer Empfehlung für einen europäischen Resettlement-Plan (2015f). Im Erwägungsgrund 7 wird klar formuliert, welches Ziel mit dem Resettlement verfolgt wird. Es soll verhindert werden, dass Flüchtlinge für die gefährliche Reise über das Mittelmeer „Zuflucht bei kriminellen Schlepper- und Menschenhändlernetzen suchen.“ Die Idee ist jedoch nicht neu: Bereits 2012 wurde ein gemeinsames EU-Resettlement-Programm beschlossen. Die Beteiligung fiel bisher mehr als verhalten aus: in einem Zeitraum von sieben Jahren (2008-2014) wurden in der gesamten EU weniger als 40.000 Flüchtlinge neu angesiedelt. Verbindlichkeit bei der Aufnahme von Flüchtlingen scheint in Europa ein Problem zu sein.

Reaktionen

Der Vorschlag der Kommission für eine Umsiedlung von Schutzsuchenden innerhalb Europas stieß größtenteils auf Ablehnung. Die meisten Länder wollen nur einer freiwilligen Aufnahme zustimmen. Vor allem osteuropäische EU-Länder, wie Tschechien, Slowakei, Polen und die baltischen Staaten meinen, sie könnten nicht so viele Flüchtlinge aufnehmen, wie sie der Quote nach müssten. Ungarns Regierungschef Viktor Orban nannte den Vorschlag „absurd“ und „an Wahnsinn grenzend“: „Quotas are only going to bring more people to Europe. It is an incentive for people traffickers and will simply tell people: yes, try to cross the Mediterranean at all costs.“ (Deutsche Welle 19.5.2015). Die rechte Regierung des Landes kündigte jüngst die Errichtung einer vier Meter hohen Drahtzaun an der Grenze zu Serbien an, um Flüchtlinge abzuwehren (Süddeutsche Zeitung 17.6.2015). Auch Großbritannien ist gegen eine Flüchtlingsquote und kündigte wie Irland und Dänemark an, von ihrer Opt-out-Regelung Gebrauch zu machen. Spanien, Deutschland und Frankreich sind mit dem vorgeschlagenen Verteilungsschlüssel unzufrieden. Spanien fordert, dass die Arbeitslosenquoten stärker berücksichtigt werden, während Deutschland und Frankreich mit der Forderung, die Anzahl bereits aufgenommener Flüchtlinge höher anzurechnen versuchen, die ohnehin geringe Aufnahmequote von 4.000 bis 5.000 Personen weiter zu senken (MDR 2.6.2015).

Aufgrund dieser Reaktionen überrascht es nicht, dass der EU-InnenministerInnengipfel vom 16. Juni 2015 sich nicht zu einer Entscheidung bezüglich des Relocations-Plans der Kommission durchringen konnte. Es gab lediglich Beschwörungen der europäischen Solidarität sowie Absichtserklärungen bezüglich einer freiwilligen Beteiligung. Der bundesdeutsche Innenminister de Maizière brachte das Ergebnis daher auf die typische europäische Formel „Es gibt noch kein Ergebnis, aber es gibt eine gemeinsame Überzeugung, dass wir bald eine gemeinsame Lösung brauchen“ (Süddeutsche Zeitung 17.6.2015).

Dabei gilt es zu beachten, dass die gesamte Diskussion um Relocation und Resettlement in keinster Weise eine weitreichende Reform Dublins beinhaltet. Vielmehr handelt es sich um die Einführung eines Überdruckventils, das Dublin vor dem endgültigen Kollaps, der sich aufgrund der steigenden Ankunftszahlen abzeichnet, schützen soll. In dieser Hinsicht ist auch die bundesdeutsche Verhandlungsposition zu interpretieren. Nachdem Deutschland über ein Jahrzehnt von Dublin profitiert hat, ist es das Land, das einen Zusammenbruch des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems am meisten zu fürchten hat. Die deutsche Unterstützung für die Relocation-Pläne der Kommission sind daher der Versuch, eine Brandmauer um Dublin zu errichten. Dies lässt sich konkret in einer Erklärung des französischen und deutschen Innenministers nach dem G6-Treffen der sechs wichtigsten EU-Innenminister am 1. und 2. Juni 2015 auf Schloss Moritzburg nachlesen: „Das Dublin-System muss in Kraft bleiben“ (BMI 2015). Zu diesem Zweck schlagen Deutschland und Frankreich eine verstärkte europäische Intervention in Form einer Asyl-Troika aus EASO, Frontex und Kommission in den EU-Mitgliedsstaaten an der Außengrenze vor.

Ausblick

Festzuhalten bleibt, dass das politische Feld rund um Dublin derzeit so dynamisch wie noch nie in der knapp 25-jährigen Geschichte ist. Wohin diese Dynamik führen wird, kann derzeit noch nicht beantwortet werden. Dennoch lassen sich die Positionen der aktuellen Akteurskonstellation abschätzen. Die Position Deutschlands und Frankreichs wurde schon angedeutet. Für diese beiden Staaten, die nach dem von der Kommission vorgeschlagenen Verteilungsschlüssel (Kommission 2015e) jeweils 22% und 17% der Flüchtlinge in der EU aufnehmen müssten, stellt der Schlüssel eine Obergrenze da, an deren Durchsetzung beide Staaten ein großes Interesse haben müssen. Im Bezug auf die Kommission ist davon auszugehen, dass ihre Position auf eine langfristige Modifikation Dublins hin zu einem tatsächlichen Verteilungssystem zielt. Die Aktivierung des Notfallmechanismus aus dem Lissabonner Vertrag verfolgt vor allem das Ziel, einen konkreten Verteilungsschlüssel in der politischen Realität der EU-Migrationspolitik zu etablieren. In einem weiteren Schritt kann die Kommission dann auf diesen Schlüssel verweisen und darauf aufbauend ein tatsächliches Verteilungssystem vorschlagen, welches dann auch vielleicht gar nicht mehr durch Ausgleichszahlungen versüßt werden muss.

Doch für all diejenigen, die gegenwärtig von der Misere des Dublin-Systems betroffen sind, also all jene Flüchtlinge, die schon in Europa sind oder die gerade erst ankommen, bedeuten diese Diskussionen wenig. Denn die grundsätzliche Krux sowohl des Dublin-Systems als auch eines wie auch immer gearteten Umverteilungssystems ist, dass die Fairness des Systems jeweils anhand der „Lasten“ bewertet wird, welches es in den einzelnen Mitgliedsstaaten verursacht. Damit fällt die Subjektivität der Flüchtlinge, die meistens sehr genaue Vorstellungen haben, in welchem Mitgliedsstaat der EU sie Zuflucht suchen wollen, erneut unter den Tisch. Es ist aber genau diese Selbstbestimmtheit, die den Kern der gegenwärtigen Krise Dublins ausmacht. Sie wird auch die Krise des nächsten Systems ausmachen. So entstand jüngst ein weiteres Flüchtlingscamp an den Landesgrenzen innerhalb Europas: Dieses Mal sind Flüchtlinge an der französisch-italienischen Grenze in einen Sitzstreik getreten, weil Frankreich ihnen die Einreise und damit die Weiterreise in ihr Zielland verweigert (tagesschau.de 16.6.2015). Der Versuch, die Protestierenden mithilfe von Polizeikräften zu vertreiben lässt sich als Machtlosigkeit gegenüber der Beharrlichkeit und Selbstbestimmung der Flüchtlinge begreifen.

Quellen